3.4.2.3 Gestalt-Merkmale

Die örtlichen, materialisierten Ausformungen gestalterischen Ausdrucksweisen und baukulturellen Spezifika eines Siedlungs- und Stadtraums – d.h. die Attributionsinhalte39 für die Stadt-Bausteine, für die Ordnungsfaktoren und die Ortsparameter – werden hier als „Gestalt-Merkmale“ bezeichnet. In der Architekturdiskussion sind die Gestalt-Merkmale häufig in der allgemeinen Worthülse der „architektonische Qualitäten“ enthalten, mit denen die physische und atmosphärische Erscheinung von Architektur und Stadträumen vage beschrieben werden. Der Ausdruck, die Ausstrahlung der Objekte und Räume und die dadurch entstandene Atmosphäre (Stimmung) sowie die hierfür massgebliche Gestaltungsart der Bauten und Stadträume werden durch die angewendete Textur, benutzten Materialien, Bauweisen und räumlichen Anordnungsarten und deren Bezüge untereinander mitbestimmt. Die vorherigen Untersuchungskategorien (3.4.2.1 Stadt-Bausteine und die 3.4.2.2 Ordnungsfaktoren40) erhalten mit dieser Attribuierung eine physische Materialisierung und damit ihre wahrnehmbaren atmosphärischen Ausdrucksqualitäten. Ihnen werden diejenigen Eigenschaften verliehen, durch die sie ihre geplante und bauliche Erscheinung und Ausformung („Gestalt“) bekommen. Bzw. werden bei der Analyse der „Wirklichkeit“ dieser die Attribute abgezogen und die „abstrakten und begrifflichen Modelle“ treten dadurch hervor.

Mit den folgenden Merkmalskategorien können die Wirkungsqualitäten41 systematisch/er erfasst werden und auf diese Weise besser unterschieden und erfasst werden:

  • Raum- und Architektur-Gliederungsweise; wie Kleinteiligkeit, Axialität, Asymmetrie, Disparität, Familiarität , Kontinuität, „Störung“ (oder „Bruch“ innerhalb eines homogenen Kontexts), Masstäblichkeit etc.
  • Raumvolumen-Größe und -wirkung („Dimensionalität“); wie Breite – Höhe – Länge – Tiefe, Proportionalität (z.B. beim Strassenraumprofil), Massigkeit etc.
  • Gestaltungsart und -weise (Ausdruck); wie Harmonik, Gleichförmigkeit, Kontrastbildung, Fragmentierung, Fragilität, Leichtigkeit, Vielfältigkeit, Einheitlichkeit, Monumentalität etc.
  • Materialität und Textur; wie steinern, durchgrünt, glatt, rauh, transparent, verkleidet, farbig, massiv, leicht etc.

HINWEIS: Kunst-Epochen und Baustile siehe bei „Ortsparameter“ folgend unter 3.4.3.

  • Wirkung, Atmosphäre (Charakteristik); wie geschlossen – offen, technoid, „modern“ – traditionell, ländlich – städtisch, hart – weich, fliessend-übergehend – hart-angrenzend, gewohnt – ungewohnt, “kalt“ – anheimelnd („warm“), störend – konform, erhaben ‒ nüchtern etc.
  • Öffentlichkeitsgrad, -charakter; wie privat – öffentlich, dörflich – urban, anonym – persönlich, allein – gemeinschaftlich, ruhig („tot“?) – „lebendig“ etc.

Einige Gestalt-Merkmale sind nur „relational“ zu verstehen bzw. zu definieren; z.B. der „heitere“ Ausdruck der olympischen Anlagen in München43 (Deutschland) ist nur verständlich über die gleichzeitig vorhandene Referenz zu etwas, was „massig & schwer“ erscheint. Ebenso wie eine nicht-auszuschliessende, nur-subjektive Qualifizierung eines räumlichen Sachverhalts ist bei der Merkmalsanalyse ebenfalls das Kultur-Verhaftet-Sein (des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen) kritisch mit zu bedenken44. Weitergehende stadträumliche, architekturpsychologische Methoden hat Joachim Franke in seinen Untersuchungen über die Eindrucksqualitäten von Wohngebieten entwickelt und angewendet45. Siehe zum Begriff „Architekturqualitäten“ den Exkurs 7: Architekturqualitäten.

Gestalt-Merkmale treten hauptsächlich in den kleinräumlichen und in den nah-räumlichen Ebenen (Mikro- und Meso-Stadtebenen) auf. Sie sind ablesbar sowohl als stadträumliche Gliederungsweisen, Raumwirkung, am generalisierten Architektureindruck der Bebauung wie auch oft beim architektonischen Detail anhand der (Oberflächen-) Materialien und den dadurch mitgeprägten Stadtraum-Stimmungen.

Hinweis

Beim aufmerksamen Durchlesen der zuvor beispielhaft angeführten „Wirkungsqualitäten“ wird deutlich, wieviel gedankliche Klarheit [noch…] erstrebenswert ist, um Konsens über die Zuordnungen und Qualitätsformen (bei einer Untersuchung) zu erreichen bzw. zu gewinnen. Allerdings ist dies im konkreten Anwendungsfall bei einem konkreten Untersuchungsort erreichbar und weniger kompliziert, als bei einer allgemeinen Erörterung.

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39: Attribution: Eigenschaft, Wesensmerkmal, nähere Bestimmung, Eigenart, Spezifikum, nähere Bestimmung
40: Die ja „abstrakte“ und begriffliche Modellvorstellungen und theoretische Kategorisierungen sind!
41: Der momentane, tatsächliche Eindruck eines Bauobjekts oder Raumes ist beim Betrachter und Nutzer jedoch durch dessen individuelle und situative Wahrnehmungsdisposition (und in Parenthese mit seinen ähnlichen, früheren Erfahrungen) bestimmt.
42: Siehe den Begriff der „Familienähnlichkeit“ bei Ludwig Wittgenstein
43: Die Olympiade 1972 wurde (auch) wg. der Zelt-Architektur (Architekt Günter Behnisch) und der Landschaftsplanung (Günther Grzimek) als „heitere Spiele“ charakterisiert und benannt.
44: D.h. wichtig sind hierbei ausreichende Kommunikationsprozesse zur Verständigung bei der Untersuchungssituation.‒ Es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungsmethoden zur Feststellung von Wahrnehmungseindrücken der gebauten Umwelt (z.B. das „Semantische Differenzial“ in der Architekturpsychologie); siehe z.B. die folgende Fussnote.
45: Franke, Joachim: Stadtbild ‒ Zum Erleben der Wohnumgebung; in: Stadtbauwelt Nr. 24 / 1969, S. 292ff