Materiell und dinglich betrachtet, setzt sich die Stadt bzw. eine Ansiedlung aus der Summe des Sichtbaren des jeweiligen Ortes zusammen, bestehend aus einer Vielzahl natürlicher, baulicher, räumlicher und gliedernder Objekte und mit deren jeweiligen Eigenschaften. Diese bilden und formen zugleich die Räume zwischen dem Gebauten aus und ordnen damit, wie, womit und worin die Menschen an jenem Ort leben. Will man diese Orte systematisch untersuchen und beschreiben, ist es praktisch, wenn man eine generelle, anpassungsfähige Beschreibungsweise benutzt wegen der Vielzahl an möglichen Objekten und Eigenschaften und immer wieder anderen, örtlichen Gestalt-Konstellationen.
Die oft gebrauchte, bildhaft-biologistische Charakterisierung einer Stadt als „Organismus9“ verweist auf das „Wesenhafte, Veränderliche und Lebendige“ einer Stadt und damit über das Rein-Materielle hinaus. D.h. die vielfältigen Lebensvorgänge in einer Ansiedlung – mitsamt der gestalterisch-dinglicher Art – werden als ein komplexes urbanes System betrachtet und beschrieben. Der Mathematiker Norbert Wiener (1894 – 1964) schlägt eine Strategie vor, wie solch komplexe Gebilde zu untersuchen sind: „Um einen Organismus zu beschreiben, versuchen wir nicht, jedes einzelne Molekül in ihm zu spezifizieren, und ihn Stück für Stück zu katalogisieren, sondern eher, gewisse Fragen über ihn zu beantworten, die seine Struktur entschleiern (…).“10 Ein hierfür geeignetes Beschreibungsschema benötigt die passenden Fragestellungen, eine vereinfachende und konzentrierende Sichtweise und verschiedene Untersuchungsmethoden. Das BAM-Modul Städtebau stellt primär Fragen nach den städtebaulichen Zusammenhängen von Umgebung und Objekt; in diesem Abschnitt 3.4 eingeengt auf die materiell-dinglichen, architektonischen Zusammenhänge und deren Wahrnehmung. Kurz gesagt: Es sind Fragen nach dem Bild der Stadt und seiner Entstehung und Zusammensetzung auf den unterschiedlichen Ebenen. Das hier vorgestellte Beschreibungsschema unterscheidet zwei Arten zur Charakterisierung der Anteile an räumlichen Gebilden. Diese haben „themen- und inhaltsoffene“, prozessuale Bezeichnungen (Begrifflichkeiten) erhalten und ordnen die städtebaulichen Umweltgegebenheiten, die damit erkundet und erfasst werden:
Die modulspezifische, angepasste Anwendung dieser zwei Begriffe benutzt deren allgemeine prozessuale Eigenschaften und Verknüpfungsmöglichkeiten. Die änderbaren, ggf. wählbaren variablen, kennzeichnenden Einflussgrössen auf die örtlichen, materiell-räumlichen Situationen werden zusammengefasst unter der Begrifflichkeit „variable Gestalt-Modifikatoren“. Sie enthalten die sogenannten „Stadt-Bausteine, Ordnungsfaktoren und Gestalt-Merkmale“. Die generellen, mehr bindenden, orts- und zeitgebundenen regionalen „Orts- und Zeitparameter“, d.h. die die Örtlichkeit bedingenden Umstände, werden unter der Begrifflichkeit „generelle Gestalt-Operatoren“ zusammengefasst.
Die beiden Begriffs- und Beschreibungskategorien entschlüsseln an dem konkreten Ort – am Standort und Ausgangspunkt einer Stadtraum-Analyse – die jeweilige „wirkliche Melange“ aus natürlicher und gebauter Umwelt. Modifikatoren wirken (im Vergleich mit Operatoren) schwächer und nicht grundlegend verändernd; etwas Vorhandenes wird mit (s)einem „bleibenden Kern“ nur verändert, abgeändert, modifiziert, variiert. ‒ Die als permanent wahrgenommenen Orts- und Zeitparameter (Operatoren) (ver-)wandeln sich auch etwas, je nach Bauepoche, Entwicklungsmöglichkeiten und sonstigen Einwirkungen (wie z. B. Kriegszerstörungen oder Naturkatastrophen) im Laufe der Zeit; sie sind jedoch grundsätzlich überdauernd. Beide Beschreibungskategorien zusammen helfen, den „städtebaulichen Analyse-Stoff“ sinnvoll in Einzelaspekte zu zerlegen innerhalb des entwickelten Gesamt-Beschreibungsschemas. Auf diese Weise kann der Stadt- oder Ortscharakter und sein natürlich-baulicher Hintergrund „entschleiert“ – dh. erkundigt, festgestellt und festgehalten werden.
Einige „gestalt-bildende“ bzw. „gestalt-prägende“ Modifikatoren und Operatoren (siehe hierzu eBook-Text Städtebau S-1 Abschnitt 2.6 und Text S-3 Abschnitt 4.2.2) werden in den folgenden Abschnitten geordnet, beschrieben und aufgelistet, ohne damit eine Vollständigkeit beanspruchen zu wollen. Vielmehr soll eine Reihe von Beispielen zeigen, auf welche Weise „Einflussfaktoren und örtliche Konstellationen“ wo und wie aufzufinden, zu erfassen und zu beschreiben sind. Eingedenk des obigen Zitats von N. Wiener liegt der Zweck der Beispiel-Auflistungen in der Vorführung von Sicht- und Interpretationsweisen dessen, was die (baulich-materielle) Stadt ausmacht. Dieser „Entschleierungsprozess“ zeigt, dass die beschriebenen städtischen, organismus-ähnlichen Gegebenheiten als Muster von zeit-geprägten „Einwirkungen“ und einer allmählichen „Werdung“ verstanden werden können. D.h. die städtischen Inhalte können wechseln bzw. je nach Ort, Untersuchungssituation und Bedarf ergänzt und erweitert werden. Aus solch prozessualen Betrachtungsweisen kann man ersehen, was die ortsspezifisch ermittelten städtebaulichen Eigenschaften und Regeln an Räumen gestalt- und impulsgebend hervorbrachten, aber auch was sie dämpfend bis zerstörend „vor Ort bewirken“ (können).
Die in einer Analyse zu benennenden Gestalt-Operatoren (Orts- und Zeitparameter) werden jedoch hier im BAM Erkundung nur ausschnittweise und verkürzt behandelt (siehe im Folgenden 3.4.3 weiter unten). Für weitere, allgemeine Erläuterungen zu den benutzten Begriffen und der vermittelten, städtebaulichen Inhalte des BAM-Moduls Städtebau siehe eBook Städtebau S-1.
Hier im BAM Erkundung werden die Wörter „Standort“ und „Örtlichkeit“ unterschieden. Das Wort Standort wird benutzt, um den konkret (wie in den Aufgaben) zu untersuchenden Ort zu benennen. „Örtlichkeit“ umfasst alles – die geographische wie atmosphärische Ortsbezogenheit – was masstäblich und inhaltlich darüber hinausgeht, wie etwa die kulturellen, klimatischen und gesellschaftlichen Einflüsse und Stimmungen.
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9: z.B. Renner, Robin: Urban Being. Anatomy & Identity of the City; engl. / dt.; Salenstein / Schweiz 2017
10: zitiert nach Magnago-Lampugnani, Vittorio: Architektur und Vergangenheit. Das Gestern gibt Antwort auf Fragen von heute. Die Geschichte muss wiedererkannt, aufgenommen und verarbeitet werden; in: Baukultur (Erstausgabe o. Nr.) 1979, S. 6; aus: Wiener, Norbert: The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society [1950]; London 1989 (dld: URL 07.07.2017), Kap. V Organization as the Message, S. 95. ‒ Der zitierte Textteil am Anfang des Kap. VI „Der Mensch – eine Nachricht“ ist nicht in dieser dt. Übersetzung enthalten: Wiener, Norbert: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft; 4. unveränderte Auflage (1.Auflage 1952); Frankfurt / Main o. J. (erschienen nach 1966), S. 94; s.a. Exkurs 6: Architektur & Vergangenheit
11: Modifikator = etwas, was eine variable Anpassung, Änderung, Variantenbildung, Modifikation usw. von etwas ermöglicht, bewirkt und beinhaltet (siehe eBook Städtebau Abschnitt 2.6.2)
12: Operator = etwas, was konstituierend wirkt, langfristig überdauert und eine generelle Veränderung, Transformation, Umbildung, Operation usw. mit einem bleibenden Ergebnis bewirkt (siehe eBook Städtebau Abschnitt 2.6.3)