5.15 Exkurs 15: Bauen und Wohnform (KoFo-6)

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Tugendhaftes Bauen!“ Die Reihenhaeuser in der Eichholzweid von K. Schneider

MEIN BEZUG: Viel gebraucht im Fachjargon – fast schon verschlissen zu einem Klischee, welches wohlbekannte Fotografien von selbstbestimmten, froehlich-groben Wohnumwelten suggerieren – erwartet man dies beim Besuch von Selbstbauprojekten.1 Auf der Hinfahrt ueber Wasterkingen2 verfestigt sich diese Bilderwartung: eine halbwegs strenge Konstruktionsstruktur erlaubt dort den Spielraum individuellen Ausbaus, die geplante Architektur laesst sich erobern, ‘mal mehr – ‘mal weniger diszipliniert und angeleitet3. Froehliche Direktheit, der Gebrauch und staedtische Bequemlichkeit, alternativ Gedachtes und Laienproduktivitaet zeugen von Gemeinschaftsgeist und Freiraeumen fuer und von jeden. Zwar bleibt die ordnende Architektenhand sichtbar, kein Durcheinander naiv erwuenschter handmade-Quirligkeit blueht auf – aber anders, genug um als anstoessig sich von der Nachbarschaft zu unterscheiden, gibt sich diese alternative Selbstbauweise allemal. - So kennt man sie aus den Architekturjournalen.

Neben diesen visuellen Begebenheiten las man auch von gesellschaftlichen Konzeptionen, oekologischen Zielen, Freiraeumen und Selbstbestimmung der eigenen Lebensweisen. Das Projekt in Wasterkingen zeigt dies offen, mit Recht selbstbewusst und sympathisch laessig. Gesehen zu haben, dass es wirklich s̲o̲ geht – soweit ein kurzer Besuch ueberzeugen kann – fahre ich weiter nach Sueden ins Hinterthurgau. Aelter ist dies Projekt, also vielleicht experimenteller, groeber, ein vielleicht schlichter Anfang von dem, was in den spaeten siebziger Jahren ueberall dann folgte? Das Projekt „Eichholzweid“ des Architekten und Formgestalters Karl Schneider blieb hier unbekannt – gerade dies machte neugierig.

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DIE VORSAETZE: Vorhanden war ein billiges, praktisch unbebaubares Grundstueck am Steilhang, der aus dem Talgrund schon fast ausserhalb vom Ortsteil Oberwangen TG4 sich erhebt. Sattes Wiesengruen, dunkle Waldzonen auf den Bergflanken bilden die Kulisse zusammen mit dem Dachgewirr des Dorfes am Fusse des kegelartigen Kapellenberges gegenüber; die schroffe Gebirgskulisse der Alpen rueckt naeher. In diesem letzten Zipfel des Hinterthurgau wuchs er auf und wollte nun hier sein Haus errichten. Freunde fanden sich: Gemeinsam wollte man „anders leben“. Die politische Lebendigkeit der 60er Jahre schlug sich nieder in programmatischer Ablehnung des buergerlichen Wohnens in einengende Mietswohnungen. Gemeinsame Kindererziehung und einfache, sparsame Wohnformen wollten entwickelt werden. Die intellektuelle Analyse machte ein neues Bewusstsein notwendig.

Die bisherigen gesellschaftlichen Gewohnheiten und Ansprueche schienen ueberholt, der Ruf nach Aenderungen der Verhaeltnisse wurde ernst genommen: bei sich selbst wollte man anfangen. Solch Programmatik erforderte eine kompromisslose Umsetzung in die Materialitaet von Architektur. Die Bestrebungen von Halen5 waren weiter zu entwickeln. Eine neue Haltung war die Antwort auf die (politische) Energie-Krise der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft. Konsequente, oekonomische Einfachheit und hoechste gestalterische Klarheit waren das Ergebnis der dreijaehrigen Planung, schreckte aber auch mit/in ihrer Rigorositaet manchen ab; zumal die lange Bearbeitungszeit und die Schwierigkeiten mit der Genehmigungsbehoerde und den Banken zusaetzliche Unsicherheit mit sich brachten. Uebrig blieben drei Familien.

Gerade die Rueckbesinnung auf die „eigentlichen Beduerfnisse“ zwang zur Beruecksichtigung der natuerlichen Resourcenvorgaben der Region. Karl Schneider vermied den unverbindlich weltoffenen Internationalismus der Moderne und deckte fuer sich die Bedingungen auf, die der Ort vorgab. Die traditionelle Architektur gab Hinweise, ihre Entschlackung von modischen und folkloristischen Zutaten oeffnete den Blick fuer die wesentlichen Zuege eines regionalen Bauens. Die Geldnot tat ein uebriges, um eine adaequate Verschmelzung der kargen Wohnvorstellungen, von Landschaftsbezogenheit und dem Entwerfen zu foerdern, welches ueber Corbusier und das Bauhaus hinausweist. Gestalterische Konsequenz und Praegnanz sind das Ergebnis.

DIE UMSETZUNG: Moeglich war dies - und entsprach auch den gesellschaftlichen Zielsetzungen - nur durch Selbstbau. Die eigenen Haende und Moeglichkeiten setzten den Rahmen. Nicht jedoch im Sinne von: was ist unmoeglich, wie muessen wir uns beschraenken, worauf verzichten, um pragmatisch eine Minimalbauweise zu entwickeln! Sondern der Selbstbau wurde zum organisatorischen, konstruktiven und aesthetischen Programm. Die blossen handwerklichen Faehigkeiten von Laien waren keine beschraenkenden, einzuhaltenden Grenzen; Karl Schneider nahm sie als solche mit auf und addierte noch oekologisch-gedachte Einschraenkungen hinzu: keine Energieverschwendung durch Baumaschinen wie Bagger, Kran, Kreissaege etc., wenige Materialien, eine klare Modulordnung wurden Richtschnur. Kleinster Aufwand und geringste Abmessungen, Schlichtheit und nur die „wahren Beduerfnisse“ wurden zugelassen. Moenchische Strenge durchwob die Massnahmen und ueberhoehte die blossen Notwendigkeiten hin zu beeindruckender Geschlossenheit einer (gebauten) Idee:

- an den Steilhang geschmiegte, eingegrabene Hoehlungen, dreifach uebereinander terrassiert; eingefasst durch die bergende Mauer, die gleichzeitig die drei gereihten Einheiten trennt. Erschlossen durch einlaeufige Treppen, auf denen man mit dem natuerlichen Hang von der Eingangsebene ueber den Essplatz in Ebene 2 zum Bad mit oberem Hoefli 6 hinaufsteigt. Diese dunklen Hoehlungen oeffnen sich, je weiter man nach oben kommt, zum Himmel und nach Sueden zum Innenhof ueber die Dach- und Wandflaechen aus Drahtglas.


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- abgehoben davon, quer zu den Mauerscheiben, aufgestelzt auf Saeulen aus Fertigbetonroehren und auf der Boeschungsmauer, ein zweigeschossiger Quader aus Holz. Seine Aussenflaechen aus dunkler verwitterter Holzverschalung und Kiesdach verbergen das regelmaessige Gerippe einer Stuetzen-/ Zangenkonstruktion. 226cm lichte Hoehe 7 : die Tradition der Moderne und kammerartige Knappheit sind gewollte Bedingungen fuer die Massverhaeltnisse am Bau. Die gereihten Fenster klein, aber die eine weite Oeffnung zieht die Blicke hinunter ins Tal.

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- diese beiden Baukoerper - sauber getrennt durch die durchgehende luftige Fuge und die konsequente Materialverwendung (Beton oder Holz) - sparen die dritte Komponente umfahrend aus: der kleine suedliche Innenhof liegt geschuetzt, halb ausgegraben zwischen Hang und den Gebaeudekomponenten. Er ergaenzt das Drinnen durch ein Draussen, was fast schon wieder die innere Geborgenheit eines Nestes bewirkt.

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- dies nun dreifach gereiht, streng nebeneinander auf einer Hoehenlinie des Hangs, auf der man sich von der Seite her auch dem Haus naehert, nachdem es vom Talgrund aus erblickt wurde; es jedoch beim Anstieg zunaechst rechts liegen lassen musste. Da oben sitzt es selbstbewusst, horizontal, anders und doch eingebunden. Der Waldsaum verlaengert das Gebaeude seitlich in den Wald. Die Klarheit seiner Erscheinungsstruktur gemahnt an den Willen, mit dem man hier frueher sein Heim errichtete: Die Mauer und das Holz schuetzen das Haus, als Wohnhorst ruht es fest am Hang, aufgestelzt scheint es frei genug sich so zu behaupten. ‒ Und das Gewitter beim Besuch erweist seine Geborgenheit und die Schutzfunktion, die landschaftliches Bauen erbringen muss.

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DIE AUSFUEHRUNG: Die Klarheit des Raumgefueges setzt sich fort bis in jedes Detail. Die strenge Ordnung bedachte jeden Handgriff vor, was die konstruktive Idee Wirklichkeit werden liess; z.B.:

  • Pfosten und Zange besitzen dieselben Abmessungen; jeder Nagel ihrer Verbindung ist eingemessen und durch dasselbe Schablonenbild fixiert (nicht nur aus statischen Gruenden).
  • weiss beschichtete Spanplatten sind flexible Trennwaende (zwischen die Deckenzangen eingeschoben), aus denen Schrank- und Zimmertueren exakt herausgesaegt wurden; ebenso dienen sie als Wandpaneele zwischen den Staendern der Tragstruktur.
  • sauber abgescheibter Ortbeton fuer Treppen und Nassraumboeden; eine sichtbare Deckenaussparung fuer das Abflussrohr wohl plaziert.
  • nahezu fugenlos geschichtete Betonhohlsteine ohne Verband; roh belassen, verraet das ungewohnt-gitterartige Fugenspiel die blosse Schalfunktion (zumindest wirft es Fragen auf).
  • Stahl-T-Profile tragen zugleich Decken, Regale und die Glasfassade mit dem Glasdach durch alle drei Ebenen.
  • sinnfaellige Beschlaege und Armaturen verwundern ob ihrer vielseitigen Verwendbarkeit: Gummiknebel als Fensterriegel und Schraegstelleinrichtung; Dusche und Handwaschzulauf in eins; Sardinendosenprinzip fuer den Sonnenschutz beim Glasdach (à la 2CV-Verdeck )8; eine Deckenstromschiene parallel zur Aussenwand eruebrigt alle weiteren Stromleitungen etc..

Die aesthetische Praegnanz der Details bereichert das Auge und weist auf sie selbst zurück: Funktionalitaet, Sparsamkeit und Normalitaet feiern ein Fest. Nur wer selbst entwirft, weiss von unermuedlicher Suche und geduldiger Arbeit.

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DER GEBRAUCH: Klarheit und Konsequenz in Raum und Gestalt sind jedoch nur Material fuer das „andere Leben“. Dessen Tugenden sollten sich hier entfalten koennen:

  • Offenheit fuereinander, neu anzufangen und zu lernen, so miteinander zu leben. Konflikte nicht vermeiden, sondern auszutragen - Ruecksicht nehmen und erleiden.
  • Grenzen erfahren und selbst setzen; Vertraeglichkeit erproben und Maengel hinnehmen; den vordergruendigen Materialismus ueberwinden hin zu neuen/alten Lebensformen: den Naturgezeiten folgen, sich einrichten - zusammenhocken im Winter, ausdehnen im Sommer ...
  • Lust der Einfachheit und Urspruenglichkeit; die Funktionalitaet eines Daseins erleben, die Freude am Kleinen - die Perfektion der absoluten Ordnung, die alles stuetzt.
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Doch dieser Glaube verletzt die andern, die Ehrlichkeit der Haltung provoziert. Die Strenge laesst nicht kalt, sondern fragt mich selbst, wie ich es damit halte. Scharf fuehrt sie sich mir vor - es bleibt nur wenig Raum fuer Wenn und Aber, denn der Glaube sitzt tief. Der Kampf bis hierhin machte hart; und so wurde manches harsch, was besser den Liebreiz eines einfachen „So-Seins“ bekommen haette. Die gewollte und erzwungene Knappheit beschraenkt die Weitsicht, dass naemlich Haltung und Beduerfnis sich wandeln ..., Umraum benoetigt zur Ausdehnung ..., Aenderung zur Erneuerung. Aufraeumen und Eingrenzen sind nun taegliche Pflicht; Haushalt und Bueroarbeit muessen sich arg begnuegen, Kinder und Eltern leben unvermeidlich eng zusammen; die Witterung engt das Leben ein.

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Doch Haus und Hof bergen ihre Bewohner, Geborgenheit und Naehe beruehren sich, Ueberraschung und Gemuetlichkeit halten wohlgestimmt Balance. Strukturen und Volumina spielen ineinander, geben Hintergrund und Buehne fuer die Beziehungen nach innen wie nach aussen. Fein definiert und doch komplex, karg und einfach-reich ‒ hier scheinen dem Besucher Frage und Antwort, Haltung und Leben eng verwoben. Dies war das Ziel, hier ist das Ergebnis. Erbaut wurde eine Gesinnung; die so gestellten Fragen muss jeder selbst beantworten.

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PROJEKTANGABEN:

Architekt Karl Schneider
Ort Oberwangen, Gemeinde Fischingen / Schweiz
Planung 1967 -71
Bauzeit 1971 - 74
Baukosten 92 000,- Fr. pro Einheit
BGF 110qm
Ausfuehrung: Ehepaar Schneider mit Unterstuetzung durch Bekannte;Holzbauteile zugeschnitten geliefert;

Kiesdach, Sanitaer-, Elektroanlage und Blecharbeiten durch Fachbetriebe

Plaene & Modell Karl Schneider
Foto & Skizzen Klaus Brendle (1982 / 83)
Literatur:

- Schneider, Karl: Alternativen im Wohnungsbau. Anliegen und Gedanken eines Architekten; in: Schweizerische Technische Zeitung Nr. 23 / November 1980, S. 1152ff

- Schneider, Karl: Alternative Architektur. Zum Beispiel Reihenhäuser Eichholzweid; in: Schweizerische Technische Zeitung Nr. 23 / November 1980, S. 1160ff

Kleinkorrekturen und alle Fussnoten im Juli 2023


Anmerkung

Literatur: - Schneider, Karl: Alternativen im Wohnungsbau. Anliegen und Gedanken eines Architekten; in: Schweizerische Technische Zeitung Nr. 23 / November 1980, S. 1152ff

- Schneider, Karl: Alternative Architektur. Zum Beispiel Reihenhäuser Eichholzweid; in: Schweizerische Technische Zeitung Nr. 23 /November 1980, S. 1160ff

Kleinkorrekturen und alle Fussnoten im Juli 2023

Brendle, Klaus (unveroeffentlichter Text mit Abbildungen von 1983)



1: Beim „Selbstbau“ errichten die späteren Nutzer und/oder Architekten das Bauwerk selbst mit eigenen Händen.

2: Dort errichtete die Wohngenossenschaft „Im Spitz“ 1978 (erweitert 1981) ein alternatives Wohnbauprojekt; Architekt Walter Stamm; z.B. siehe in deutsche bauzeitung (db) Nr. 4 / 1982, S. 16f f

3: siehe dazu die Studentenhäuser in Stuttgart-Vaihingen mit Architekt Peter Hübner (Abbildung Nr. ... in BAM-Konstruktion&Form (KoFo) / 3.4.5.1.c./ http://www.bauhaeusle.de/about.html Stand 13.04.2018); siehe auch die Wohnhäuser in München-Perlach der Architekten Thut & Thut (Abbildung Nr. ... in BAM-Konstruktion&Form (KoFo) /3.4.3.4.2.e./ https://deu.archinform.net/arch/3005.htm https://deu.archinform.net/arch/3006.htm

4: in der Gemeinde Fischingen, Kanton Thurgau (TG)

5: Siedlungsprojekt in Bern (Schweiz) der Architekten „Atelier 5“ (1961)

6: dt.-schweizerischer Diminutiv des Wortes „Hof“

7: 226 cm: siehe den Modulor von Le Corbusier

8: ein legendäres Einfachst-Automobil der frz. Firma Citroën, dessen Dachverdeck (wie bei einer Fischdose) aufgerollt werden konnte.

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