3.2.4 „Zeit bauen“ – Rekonstruktion und Vernichtung von Zeit (tabula rasa):

Sehnsüchte nach vergangenen Situationen kennen wir alle; ein Verlust wirkt oft nachhaltig und wird zum Anlass, das Verlorene nicht nur zu vermissen, sondern führt zu einer Suche, um sich mit dem Fehlenden auf die eine oder andere Weise auseinanderzusetzen. Bei der Auswahl, ob man sich auf die gedankliche Erinnerung verlässt, eine gedenkende Unterstützung sich wünscht (z.B. ein Denkmal) oder ob man bei Bauwerken sogar die Möglichkeit sieht, diese wieder zu erstellen, ist die diskutierte Bandbreite uneinheitlich und weitläufig. Hier im BAM Erkundung ist nicht der Raum, sich damit ausführlich zu beschäftigen. Jedoch muss beim Faktor „Zeit“ zumindest erwähnt werden, dass das „wieder-erstellte Bauwerk“ (z.B. bei der jetzigen Rekonstruktion des Berliner Schlosses oder der Frankfurter Paulskirche durch den Architekten Rudolf Schwarz im Jahr 1948 oder bei dem Rückbau der Herz-Jesu-Kirche in Chernivtsi in der Ukraine seit 2014) jeweils sehr unterschiedlich konzipiert werden kann bzw. bewerkstelligt wurde.

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Mit einer gänzlich anderen „Art der Darstellung von Zeitgeschehen“ zeigt sich wiederum eine Erinnerungsstätte an die Einwanderungsgeschichte der Italiener in die USA ‒ manifestiert mittels Architektur-Versatzstücken, die der postmoderne Architekt Charles Moore 1978 in New Orleans assemblierte bzw. collagierte. ‒ Der Umgang anderer Kulturen der Welt (z.B. China oder Nepal) mit vergangenen Originalen und neu-erstandenen Kopien ist ein weiteres Thema, was hier nicht vertieft werden kann.

Der Umgang mit Zeit-Rekonstruktionen ist durchaus ein Thema, was nicht nur als rein-materielle Bauaufgabe zu betrachten ist, sondern er bedarf einer gedanklichen Anstrengung und einer Konzeption der angezielten Vorstellung von Zeit. Die kulissenartig konzipierte Nacherzählung im Sinne eines Erinnerns an die Geschichte, und die Rekonstruktion5 von etwas Zerstörtem – die ebenfalls auf unterschiedlichste Weisen möglich ist, wie die Beispiele zeigen – befassen sich nicht nur mit bloss-kunsthistorisch bedeutsamen Objekten. Sondern eine Rekonstruktion beinhaltet ebenfalls die politische Geschichte und verweist damit grundsätzlich auf weitere Zugangs- und Erfahrungsebenen von Zeitgeschichte in der gebauten Umwelt.

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Es soll mit diesen Sätzen der Hinweis genügen, dass bei einer städtebaulichen Erkundung diese und andere „Zeit-Aspekte“ wesentliche Fragen bei der Erfassung sind und ausführlich und gründlich zu beschreiben sind. Ein Stadtraum ist nicht nur ein bauliches Gebilde aus Häusern, Steinpflaster und Denkmälern, sondern zudem ein Kulturraum und -objekt, das in seiner damaligen Zeit ‒ und in der heutigen, aktuellen Zeit seiner Betrachtung Widersprüchliches, Historisches und Unbekanntes mit sich trägt, das es zu entdecken gilt und über das offen und erkennbar zu berichten ist. Die Beschreibung einer solchen geschichtlich aufgeladenen Raumsituation muss die wesentlichen (zeitbedingten) Bedeutungsebenen mitenthalten, weil sie ansonsten sich den Vorwurf gefallen lassen muss, die (historische) Zeit nicht nur baulich-materiell ‒ wie in der Vergangenheit oft geschehen ‒ sondern diese auch gegenwärtig kulturgeschichtlich zu vernichten.


5: Rekonstruktion = nach: DIN EN 15898, Abschnitt 3.5. Begriffe zur Stabilisierenden Konservierung und Restaurierung: 3.5.6. Rekonstruktion (de) / reconstruction (en) / reconstitution (fr), restitution (Syn.) (fr) „Wiederherstellung eines Objekts zu einer angenommenen früheren Form unter Verwendung von erhaltenem oder ersetzendem Material
ANMERKUNG 1 Eine Rekonstruktion respektiert die Bedeutung des Objekts und basiert auf Nachweisen.
ANMERKUNG 2 Eine Rekonstruktion kann entweder physisch oder virtuell sein.
ANMERKUNG 3 In einigen Praxisbereichen wird die Bezeichnung „Restaurierung“ anstelle von „Rekonstruktion“ verwendet, wie sie hier definiert ist.“