... OFFENBART EINE EIGENWILLIGE SCHÖNHEIT
Versuchen Sie es mit einem Spiel. Wählen Sie ein Gebäude aus, das Ihnen schon lange ein Dorn im Auge ist, nehmen Sie sich Zeit und versuchen Sie, es schön zu finden! Tun Sie so, als sei es eine berühmte Sehenswürdigkeit, und begründen Sie, warum es unbedingt jeder besuchen sollte. Lassen Sie die Langeweile vorbeiziehen und versuchen Sie, nicht zu kritisieren. Ich weiß, das ist nicht einfach, da das Negative in der Regel naheliegender ist. Versuchen Sie trotzdem, die Kritik in Schach zu halten. Nach dem Spiel dürfen Sie das Objekt wieder hässlich finden – ich vermute jedoch, dass es Ihnen nicht so ohne Weiteres gelingen wird, wenn Sie nicht geschummelt haben. Das bewusste Betrachten offenbart nämlich häufig gerade dort, wo man es am wenigsten erwarten würde, eine eigenwillige Schönheit oder einen ganz eigenen Charme.
Kein anderer beherrschte den liebevollen Blick so gut wie der Schriftsteller und Flaneur Franz Hessel. Seine 1929 erschienene Publikation „Ein Flaneur in Berlin“ schließt er mit dem Aufruf: „Wir wollen es uns zumuten, wir wollen […] das Ding Berlin in seinem Neben- und Durcheinander von Kostbarem und Garstigem, Solidem und Unechtem, Komischem und Respektablem so lange anschauen, liebgewinnen und schön finden, bis es schön ist.“
Bei dem liebevollen Blick handelt es sich nicht nur um eine schale Aufforderung, sich mit dem abzufinden, was im gebauten Raum zu finden ist, sondern um eine Kulturtechnik. Mit Leidenschaft und Ausdauer durchstreifte Hessel zunächst Paris und später, während der Weimarer Republik, Berlin. Seine Texte sind Liebeserklärungen an die vielen Kleinigkeiten und Dinge, die man im Alltag übersieht, für selbstverständlich oder nicht betrachtenswert hält. In seiner 1932 veröffentlichten Publikation „Ermunterung zum Genuss“ empfiehlt er, sich Minutenferien vom Alltag zu nehmen, um im eigenen Stadtviertel herumzulaufen und es zu betrachten, als habe man es noch nie gesehen. Er präzisiert: „Ist also die Straße eine Lektüre, so lies sie, aber kritisiere sie nicht zu viel. Finde sie nicht zu schnell schön oder hässlich. Das sind so unzuverlässige Begriffe. Lass dich auch ein wenig täuschen und verführen.“ Und schließlich heißt es: „Vom freundlichen Anschauen bekommt auch das Garstige eine Art Schönheit ab. Das wissen die Ästheten nicht, aber der Flaneur erlebt es.“
Wie zutreffend Hessels Beobachtungen sind, stelle ich regelmäßig in meiner Arbeit mit Kindern, aber auch Erwachsenen fest. Es bedarf nur kleiner spielerischer Interventionen, um sie dazu zu bringen, ihre höchst vertraute Alltagsumgebung mit anderen Augen zu sehen und diese in einen Abenteuerraum zu verwandeln, der Tag für Tag neue, unerwartete Schönheiten preisgibt.
Turit Fröbe, Architekturhistorikerin und Urbanistin, Berlin
Fröbe, Turit: Das bewusste Betrachten offenbart eine eigenwillige Schönheit; in: Deutsches Architektenblatt Nr. 12 / 2017, S. 14f; Fotografie: Turit Fröbe