5.10 Exkurs 10: Vorlieben - Richtig & falsch (KoFo-2)

«VORLIEBEN – ODER RICHTIG / FALSCH» BEI GESTALTUNGSTHEMEN

Bei gestalterischen Fragen ist es (oft) schwierig von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu sprechen (d.h. eigentlich: etwas wird so oder so [be-] wertet!). Meist wird es vermieden mit dem Standardsatz: ‚Das ist Geschmackssache!‘ Eine andere (Bewertungs-/ Diskussions-) Strategie ist üblicherweise, den eigenen ‚Geschmack‘ (= subjektiver Wertekanon) unbesehen als Masstab zu nehmen; deckt sich die betrachtete Gestaltungslösung mit dem eigenen Kanon, dann ist das Gebäude „gut“ (= richtig = qualitätsvoll1). Wenn nicht – ist es schlecht = falsch. Das ist ebenfalls ein ‚subjektives Urteil‘; ähnlich der ‚Geschmackssache‘ oder einer (persönlichen) Vorliebe.

Vorlieben und Geschmackssachen sind privater, n̲i̲c̲h̲t̲-̲f̲a̲c̲h̲l̲i̲c̲h̲e̲r̲ Natur. Jeder mag die Beatles oder Frank Sinatra oder Mozart – oder eine bestimmte Farbe („kobaltblau!“) – bevorzugen…; darüber gibt es nichts zu diskutieren, ausser einem Reden als einem (Info-) Austausch: das magst Du – das mag ich.

‚Richtig < > falsch’ gibt es jedoch auch bei gestalterischen Fragen in der Architektur, zumindest bis zu einem bestimmten „Level“ von Qualitätsfragen und bei einer Anwendung systematischen Denkens. Das meint, sich beim Besehen einer Sache (z.B. Fassade) darauf zu konzentrieren, was die ‚tragenden‘, konzeptualen und systemischen Grundgedanken bei der Gestaltung des betrachteten Objekts sind; es gibt zum Beispiel:

  • ein (historisches) System
  • eine angezielte Ordnung
  • die Kontinuität (dh. keinen ‚Bruch‘)
  • ein konsequentes Durchhalten einer Gestaltungsidee oder -linie
  • eine Schlüssigkeit der gestalteten Teile zueinander
  • eine Unterscheidung / ein Zusammenhang von Gesamt- und Teil- bzw. Subsystemen
  • (falls es ein ‚Bruch‘ oder eine Collage als Gestaltungskonzept gibt:) auch diese Entwurfs-, Vorgehensweisen haben bestimmbare Regeln.


Im folgenden Beispiele für einen Diskurs ‚Richtig / Falsch‘ auf einem „unteren Komplexitätslevel“ mit stichwortartigen Begründungen:

Center-Hauptfassade:

Für die kleine Fensterreihe unterhalb der Dachkante gibt es einen minimalen und maximalen Abstandswert, damit einerseits sich die kleine Fensterreihe frei entfalten kann, andererseits der Zusammenhang mit den darunterliegenden Fassadenteilen mit den grossen Fenstern erhalten bleibt. Zu unterscheiden sind: der Abstand zur Dach- bzw. Attikakante und der zur darunter anschliessenden grossen Fensterreihung. Der wiederum eine verschoben angeordnete Grossfenster-Reihung folgt.

EXKURS – 10 „Richtig & falsch“.png
  • Der Abstand der kleinen Fenster-Reihung nach unten ist zu knapp (gelber Pfeil); das eigentlich stark horizontal wirkende kleine Fenster“band“ kann sich nicht entfalten; die beiden Fensterarten haben nicht genügend freien Abstand zueinander.
  • Der die Fassade nach oben abschliessende, horizontale „Band-Eindruck“ der kleinen Fenster kann verstärkt werden, indem sich die Fensterreihung vom Abstandsrhythmus der darunterliegenden Fenster löst. (wie die Grossfenster-Reihung unten).
  • Die beiden Fenster-Reihungen des 1. und 2. Obergeschosses wirken „unruhig“, weil sie nicht aufeinander rhythmisch abgestimmt sind (Fensterachse: grüner Linie).
  • Dadurch verquicken sich auf eine unklare Weise die drei, eigentlich getrennten Aufgaben wahrnehmenden Fensterarten.


Zwei Gebäude-Ecken einer Seniorenwohnanlage:

Das Thema „die einzelne weisse Eckstütze“ – im Kontrast zur sonstigen geschlossen-wirkenden Ziegelfassade mit Fenstern – wird verschiedenerlei verwendet:

- wie ein Wechselspiel zwischen den zwei Gebäude-Eckausbildungen = (Kommentar siehe unten)

- „tektonisch“, indem es die tragende Ecke betont = jedoch wirkt die Ziegelecke viel massiver, „tragender“ und lastet auf der vorderen Ecke; die hintere dagegen wirkt ein wenig wie ein doppelgeschossiges Sockelgeschoss mit einer „leichteren“ Eckausbildung im dritten Geschoss.

- „nicht-tektonisch“ verwendet. Das funktioniert nicht richtig, weil eine solche (gemauerte) Ecke immer lastaufnehmend wirkt; und die weisse Eckstütze ist zu massiv ausgebildet, um eine klassische Übereck-Fensterwirkung zu erzeugen.

Exkurs10.jpg


- nach einer gewissen Gestaltungs- und Verteilungsregel? Welcher?:

- Zufallsverteilung der Eckstützen: über die Gesammtfassade mit wechselten Längen (ein- oder zweigeschossig)? = dafür sind 3 Geschosse zu wenig.

  • Stützen als nicht-tektonisch gedacht: vordere Ecke mit zwei weissen Eckstützen unten und die hintere Ecke mit nur einer oben? = aber eine „gewollte Beliebigkeit“ als Gestaltungsthema will sich auch nicht einstellen…
  • Die beiden Eckausbildungen sind wiederum auch zu ähnlich (und mengenmässig „zu wenig“), als dass sie einen changierenden, oszillierenden Effekt auslösen (was auch ein Gestaltungsziel sein kann…)

- Oder sind die beiden Eckausbildungen im Zusammenhang mit der nach hinten in die Tiefe laufenden langen Fassade (und der übrigen, nicht einsehbaren Fassaden) zu sehen, wo das weisse (Stützen-?) Feld bei der Fensterverteilung noch öfter verwendet wird? Das kann allerdings nicht mittels des möglichen Sichtwinkels gesehen werden!2

Im Ergebnis gibt es vor Ort besehen keine klare Antwort, welcher Gestaltungs- / Kompositiongedanke bei diesen Eckausbildungen (an-)leitend war. Nur: dass es eine gestalterische Massnahme sein soll.

Weitere Interpretationsversuche sind möglich …


„Exkurs im Exkurs“:

Zu anderen Zeiten war man sich – und mancher noch heute – selbstgewiss und wusste sich generell auf der „richtigen“ Seite bei Gestaltungsthemen. Der renommierte Architekt Friedrich Krämer schrieb in einem Wettbewerb 1948 über seinen Fassadenvorschlag für die Braunschweiger Altstadt „RICHTIG“; über eine fiktiv-traditionelle Fassaden-Abwicklung: „FALSCH“; siehe BAM KoFo-2, Abschnitt 2.3., Abb. aus: ‚Wettbewerb „Alte Waage“ in Braunschweig‘ – Beitrag von Friedrich Krämer (1. Preis); in: Baumeister Heft 57 Mai / Juni / Juli 1948, S. 214f

EXKURS – 10 „Richtig & falsch05“.png

Abbildungsquelle siehe Fussnote 3


Zum vorläufigen Abschluss

... dieser kleinen „Handreichungen“ ein Zitat von Vilém Flusser (1920 – 1991): „Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum erstenmal, ist eine Methode, um an ihnen bisher unbeachtete Aspekte zu entdecken. Es ist eine gewaltige und fruchtbare Methode, aber sie erfordert strenge Disziplin und kann darum leicht mißlingen. Die Disziplin besteht im Grunde in einem Vergessen, einem Ausklammern der Gewöhnung an das gesehene Ding, also aller Erfahrung und Kenntnis von dem Ding. Dies ist schwierig, weil es bekanntlich leichter ist zu lernen als zu vergessen. Aber selbst wenn diese Methode des absichtlichen Vergessens nicht gelingen sollte, so bringt ihre Anwendung doch Überraschendes zutage, und zwar tut sie das eben dank unserer Unfähigkeit, sie diszipliniert anzuwenden. (…)“4

Klaus Brendle (notiert 21.10.2017)


1: siehe hierzu auch EXKURS 7 „Architekturqualitäten“

2: allerdings – und nur! – auf der Fassaden-Aufrisszeichnung dieser Gebäude-Gesamt-Fassadenabwicklung (dh. nur gezeichnet im Büro der Architekten…)

3 Frick, Otto: Gestaltungslehre. Leitfaden für den Unterricht an Baugewerkeschulen und verwandten technischen Lehranstalten. Erster Teil: Die Gestaltung freistehender Landhausbauten. Mit 109 Abbildungen im Text; Leipzig und Berlin 1911, S. 2f Abb. 1 und Abb. 2 [Seiten-Ausschnitte; Hervorhebungen durch Autor; beide Abb. aus: Schultze-Naumburg, Paul: Kulturarbeiten; Bd. III: Dörfer und Kolonien; München 1908, o. Seitenangabe]

4 aus: Flusser, Vilém: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen; München / Wien 1993, S. 53 [Fett-Hervorhebung durch den Autor]

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