3.2 Zeit-Läufe: „Zeit-Horizonte / Zeit-Ebenen / Zeit-Verschachtelung / Zeit-Spuren“


a. Zeit-Fragen

Augustinus (354 – 430) erklärte: „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“1

Hier soll nicht versucht werden, diese komplexe philosophische wie auch physikalische Fragestellung zu beleuchten. Weil jedoch Architektur und Städtebau unauflösbar mit
Zeit(-Phänomenen) verbunden sind, können Architekten und Planer der Thematik nicht entgehen. Zudem kann die Vielschichtigkeit, was Zeit „ist“ und „macht“, im architektonischen und städtischen Kontext recht gut nachvollzogen werden.

b. Zeit-Schichten

Bei der Untersuchung einer bestehenden gebauten Situation beschäftigen wir uns zwangsläufig parallel mit ‒ verschiedenen ‒ Zeiträumen, weil alles Bestehende (schon!) seine Geschichte hat und (gleichzeitig ‒ jetzt!) gegenwärtig ist; und weil dann zumindest kommende kurzfristige Zeiträume absehbar sind. Wir können das Gewesene – die Geschichte der gebauten und natürlichen Umwelt – herauslesen oder auch bewusst ignorieren. Es können versteckte, unsichtbare zeitgebundene Gegebenheiten gesucht und „freigelegt“ werden oder das Gegenwärtig-Überlieferte kann durch eine neue „futuristische Schicht“ zum Verschwinden gebracht werden (siehe das folgende Gebäude-Beispiel in Recife/Brasilien).

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beide Fassaden sind denkmalwürdig, Quellenangaben im Literatur- und Quellenverzeichnis unter Edificio Luciano Costa

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(Alle Referenzen finden Sie in den Literatur- und Quellenverzеichnis; Titel der Quelle: „Edificio Luciano Costa“)


c. Zeit-Geschehnisse

Eine Zeit-Recherche beinhaltet sowohl die Fragestellungen zu den Dingen und Gegenständen selbst wie das Alter, Material und sein Wirkung, die Herstellungsweise, der Geschichts- und Kulturwert des Bauwerks, zum Gestaltungskonzept etc., wie auch die Suche nach Gebrauchsweisen und Geschehnissen in den früheren Zeiten. Es werden erfragt die Nutzungen, erforscht die handelnden Personen und Sozialstrukturen, die erzählten Erinnerungen, einschneidenden Ereignissen etc., die dort stattfanden und derer ggf. gedacht werden soll (z.B. bei einem Museumsprojekt im ehemaligen Wohnhaus der bekannten ukrainischen Schriftstellerin Olha Kobylianska in Chernivtsi (Ukraine) oder wie beim Holocaust-Mahnmal des Architekten Peter Eisenman in Berlin; siehe auch die folgenden zwei Abb.).

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d. Zeit-Bedeutung

Wir stossen bei Planungsarbeiten unweigerlich auf die Frage, ob etwas „übernommen“, erinnert, „übertüncht“, zerstört, ausgetauscht oder weiterentwickelt werden soll und kann. Deshalb benötigen wir eine fachliche Haltung zum Zeitbegriff, ein Verständnis für „Epochen“, um uns unserer eigenen Gegenwart zu vergewissern: wo wir jetzt stehen. Nur – und immer nur von „dort“ aus kann in die Zukunft und für die Zukunft gedacht und entworfen werden. Was hat dies Bauwerk oder diese Stadtraum-Situation jetzt für eine Bedeutung – welchen Wert haben aufgefundene Benutzungsspuren für die heutige Zeit und Kultur? Was soll sein ‒ was wird sein? Ein Plan oder Entwurf ist zwangsläufig immer eine Antwort auf all diese Fragen und beschreibt – zunächst als Projekt – was zukünftig an diesem Ort, in dieser Strasse und mit dieser Stadt geschehen soll.

e. Zeit-Horizonte

Jede Stadt, jeder Stadt- und Landschaftsraum, jedes Bauwerk und jedes Objekt bewahrt in sich drei Zeithorizonte – immer bezogen auf die jeweilige Gegenwart:

  • die Entstehungs- und Baugeschichte durch die Anwesenheit des Vergangenen,
  • das sozio-funktionale Geschehen im aktuellen Raum als Einsicht in das Gegenwärtige,
  • die neuen, z.T. auch fortschreibbaren Tendenzen als Vorwegnahme des Zukünftigen.
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Ein gestaltungs- und bauhistorisch orientiertes Stadtentwicklungsmodell, welches die drei Zeitebenen miteinander in Beziehung setzt, hat Vittorio Magnago-Lampugnani 1979 publiziert. Das Beschreibungsmodell zeigt, wie verändernde oder stagnierende Entwicklungsprozesse bei der Stadtarchitektur erklärbar sind. Es kann in Auszügen im EXKURS 6 „Kybernetik und Freiheit“ S-2 nachgelesen werden.

f. Zeit-Fragen

Inwieweit Zeitaspekte eine Rolle bei einer Stadt- und Bauwerksanalyse spielen, ist aufgaben-, objekt- und aufwandsabhängig. Wenn es darum geht, etwas zu bewahren oder darum, etwas Gegenwärtiges aus der Entstehungsgeschichte heraus (besser) zu verstehen, ist der Analyse-Fokus ein anderer, als wenn hierfür kein Bedarf oder Interesse besteht. Jedoch ist es oft hilfreich, dh. ggf. auch kostengünstig und verantwortungsbewusster, eine vorhandene Situation auch von ihrer Geschichte her zu untersuchen, um spätere „Überraschungen“ beim Planen und Bauen zu vermeiden. Ebenfalls hilft eine bau- und stadtbaugeschichtliche Untersuchung dem Planer, sich dadurch mit dem Objekt und Ort besser vertraut zu machen und mit diesem Wissen konzeptionell weiter zu arbeiten. Auch bei Bürgerbeteiligungsprozessen ist die Analyse der (Stadt-) Baugeschichte oft eine Möglichkeit für den Planer, durch sein Interesse an der „Heimatgeschichte“ den Kontakt zu den Bürgern zu verbessern und dadurch Vertrauen aufzubauen; und evtl.e Planungslösungen dadurch ortsbezogen zu verankern.

Im Folgenden (3.2.1 - 3.2.6) werden einige Vorgehensweisen, Inhalte und Verständnis-Konzepte kurz vorgestellt, bei denen der Faktor Zeit auf unterschiedliche Weisen eine prägende Rolle im Städtebau und bei der Architektur spielt. Bei einer Untersuchung einer gebauten Situation findet man verschiedene Aspekte des Phänomens „Zeit“, die herausgearbeitet und interpretiert werden können.



1: Confessiones XI, 14; zitiert nach wikipedia (dld. 10.05.2017) aus: Augustinus, Aurelius: Was ist Zeit? (Confessiones XI / Bekenntnisse 11); eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Norbert Fischer; lat.-dt.; Hamburg 2000. ‒ HINWEIS: In wikipedia gibt es eine differenzierte, ausführliche Übersicht zum Thema „Zeit“.