5.7 Exkurs 7: Architekturqualitäten (Stbau.-3)


„Architekturqualitäte͟n“ – Anmerkungen zu einer Floskel?

oder Eigenschaften von und durch Stadt-Bausteine / Ordnungsfaktoren / Gestalt-Merkmale

Schauen wir in einschlägige Wörterbücher bzw. ins Internet, dann finden wir unter dem entsprechenden Stichwort zwar unterschiedliche und themenbezogene, aber ähnliche Worterklärungen und Anwendungsfelder. Qualität ist...

...im Duden
Bedeutungsübersicht:

1. a. (bildungssprachlich) Gesamtheit der charakteristischen Eigenschaften (einer Sache, Person); Beschaffenheit

b. (Sprachwissenschaft) Klangfarbe eines Lauts (im Unterschied zur Quantität)
c. (Textilindustrie) Material einer bestimmten Art, Beschaffenheit

2. a. (bildungssprachlich) [charakteristische] Eigenschaft (einer Sache, Person)

b. gute Eigenschaft (einer Sache, Person)

3. a. Güte

b. etwas von einer bestimmten Qualität

(...)

HERKUNFT:
lateinisch qualitas = Beschaffenheit, Eigenschaft, zu: qualis = wie beschaffen“1

... im Klaus / Buhr:
Qualität [lat.] – eigentlich: Beschaffenheit; in der Umgangssprache, in Redewendungen – wie «ausgezeichnete» oder «schlechte Qualität» – mit einer bestimmten Wertung verbundener Begriff, der die Zweckangemessenheit eines Dinges (meistens ein Produkt der menschlichen Arbeitstätigkeit) bzw. der Eigenschaften eines Gegenstands zum Ausdruck bringt. (...)“2

... im Dorsch:
Qualität, Eigenschaft, Beschaffenheit, Eigenart, Güte, das nicht messbare »Wie« und »Was« im Gegensatz zu > Quantität. - In der Psychologie wird unter Qualität die Eigenart eines Erlebnisinhaltes verstanden, z.B. bestimmte Farbe, bestimmter Ton, bestimmtes Gefühl. Innerhalb der Qualitäten der »Empfindungen« (sensorische Informationskanäle) unterscheidet man die > Modalitäten. > auch: Intensität. (...)"3 [> = siehe]

... im Wörterbuch der ukrainischen Sprache; Band 11:
Qualität, Qualitäten, Femininum. (ukrain.: якість, якості, жін)
1. philos. Die innere Bestimmtheit eines Gegenstandes, die seine Eigenart ausmacht, die ihn von allen anderen unterscheidet.
2. Der Gütegrad der Kosten, des Wertes, der Eignung einer Sache für den beabsichtigten Gebrauch. (...) [staatliche] Gütezeichen zeigen die höchste Bewertung bei der Produktqualität. (...) Qualitätsprüfer ist eine Person, die den Grad der Eignung einer Sache bestimmt. (...)"
3. Ein bestimmtes charakteristisches Merkmal, eine Eigenschaft, ein Charakterzug von jemandem oder von etwas.
4. im Schachspiel: Der Wertunterschied zwischen bestimmten Schachfiguren, z.B. Turm und Läufer. (...)"4


A.1

Alle vier Erklärungsauflistungen der Wortbedeutung von „Qualität/en“ verweisen, wie häufig beim Nachschlagen, erstens auf weitere, mehrere Wissens- und Anwendungsfelder mit (leicht) abweichendem Sinngehalt, womit die gesuchte Begriffserläuterung weiter eingekreist – oder erweitert wird. (Dies als ein allgemeiner Hinweis auf die Komplexität und die Kontextabhängigkeit von Wortbedeutungen.) Die wahrnehmungsorientierten, psychologischen Worterklärungen sind hier diejenigen, nach denen wir suchen.

A.2

Eine zweite Gemeinsamkeit der drei Worterläuterungen der angeführten Nachschlagewerke finden wir in dem Hinweis darauf, dass die Wortbedeutungen des gesuchten Begriffs Wertungen beinhalten bzw. ausdrücken (können). Dies ist ein wichtiger Hinweis für das Verständnis und die Einordnung der gesuchten Begriffsspezifizierung für den Anwendungsbereich in der Architektur und im Städtebau.

Die uns interessierenden Worterläuterungen verweisen auf einen undefinierten, breiten Kanon von Eigenschaften (Attributen), die einem untersuchten Gegenstand zugeschrieben werden können oder / und müssen, um seine „Qualität/en“, seine Beschaffenheit zu erfassen. Der Begriff „Qualität“ fordert die möglichst genaue und umfassende Angabe von beschreibenden, benennenden Antworten darauf, wie ein Ding, ein Raum – ein Haus, ein städtischer Platz beschaffen ist. Das Wort „Qualität“ ist somit nur eine leere Worthülse, die genaue Daten und Angaben verlangt darüber, wie etwas aussieht, erfahren wird, gegliedert ist, woraus es besteht, was es womit bewirkt, welche Beziehungen es nach aussen und nach innen hat usw.. Neben der Vielzahl von erforderlichen bzw. möglichen Aufzählungen an Eigenschaften kommt als weitere Schwierigkeit hinzu, dass alle diese „qualitativen“ und atmosphärischen, beschreibenden Begriffe und Bezeichnungen (vor allem in den Kategorien 3.4.2.2 „Ordnungsfaktoren“ und 3.4.2.3 „Gestalt-Merkmale“) – umgangssprachlich – „normalerweise“ bestimmte Wertungen enthalten: etwas „Dunkles“ wird verbunden mit negativen, gefährdenden Assoziationen, etwas „Monumentales“ mit kalter Machtausübung, etwas „Lebendiges“ ist verbunden mit Positivem versus zu etwas „Leblosem“ usw.; z.B. hier ein ungleichmässig aufgebautes, heterogenes Strassenbild und dagegen ein einheitlich harmonisches Strassenbild.

A.3

Als drittes Moment kommt hinzu, was in den drei Worterläuterungen nicht thematisiert wird, dass der momentane, tatsächliche Eindruck eines Gegenstandes – eines Bauobjekts oder Raumes – beim Betrachter und Nutzer durch dessen jeweilige individuelle und situative Wahrnehmungsdisposition und seine Handlungsziele5 mitbestimmt wird; sogar das „Überhaupt-Wahrnehmen“ von etwas ist durch den aktuellen Wahrnehmungsstatus bedingt. Und die früheren und gespeicherten, ähnlichen Erfahrungen des Wahrnehmenden spielen als „Referenzobjekt“ eine Rolle bei den bewussten wie unbewussten Re- /Aktionen in der konkreten Betrachtungssituation. All dies beeinflusst das, was bei einer analytischen Beschreibung den inhaltsleeren Begriff „Qualität/en“ füllt, die tatsächliche Beschaffenheit aufzeigt und damit erst seine Qualität/en nachvollziehbar macht.

B.1

Fassadenabwicklung exkurs.PNG

Eine Strasse wie die Glockengießerstrasse (siehe Abb.) mit ihrer recht unterschiedlichen Bebauung und heterogene Fassadenabfolge – d.h. ohne deutlich sichtbare (ordnende) Gestaltungsregeln – von grossen und kleinen Häusern, trauf- und giebelständig gemischt, aus verschiedensten Bauepochen entlang einer Strasse, wird fachlich üblicherweise – auch oft gestalterisch – als negativ bewertet (= ungeordnet, chaotisch, durcheinander, regellos und zufällig...). Erst recht, wenn solch Strassen-Längsbebauung ohne sichtbar-historische Verortung oder gar gänzlich neugebaut wäre. Diese Strasse in Lübecks Altstadt wird jedoch kaum jemand auf diese Weise abqualifizieren (wollen), obwohl eine Gestaltungsanalyse, z.B. der unterschiedlichen Hausvolumina oder der Traufhöhen, grösste Unterschiede aufzeigt. Man sieht an diesem Beispiel, dass ein vielfach ungeordnetes, heterogenes Strassenbild – welches viele weitere unterschiedliche (z.B. mit und ohne Zwerchgiebel, verschieden Materialien) wie auch einheitlicher, angeordnete Gestaltungselemente aufweist (z.B. Lochfassaden, ähnliche Hausbreiten, jedoch auch hierbei mit Abweichungen) – insgesamt als qualitativ positiv bewertet werden kann. (Hier als „vielfältig“ zu kennzeichnen. – Jedoch solch‘ Bewertungen ändern sich auch in der Zeit und über die Zeiten! 1960 sah und bewertete man das – auch in Lübeck – anders und machte Abrissplanungen für solche Altstadtquartiere.) Dies zeigt, dass alle / viele dieser qualitativen Begriffe je nach Ort / Situation / Bauepoche / Region usw. zwar implizit und ggf. dem Wortlaut nach, erkennbar Bewertungen enthalten, sie jedoch auch als Beschreibungsweisen „wertneutral“ benutzt werden6 (können), sofern man diese Bewertungsanteile herausarbeitet, extrahiert und (gedanklich) eliminiert. Solche Eigenschaftsbezeichnungen sind hier in unserem fachlichen Gestaltanalyse-Kontext somit als „neutraleBegriffe und Beschreibungen7 zu verstehen.

Der vorgegebene städtebauliche Kontext, der baukulturelle Bezug wie auch das Entwurfs- bzw. städtebauliche Kompositionsprinzip geben die Regeln / Kriterien vor für eine angemessene und passende Beschreibung der vorhandenen räumlichen und baulichen Qualitäten; und – soweit erforderlich – für eine Bewertung aus dem gegebenen Kontext heraus. „Architektonische Qualitäten“ – als solche postuliert – gibt es nicht als leere Worthülse, sondern sie müssen nachvollziehbar benannt und ablesbar sein. Denn: anders als in der Glockengießerstrasse in Lübeck – nämlich ggf. als falsch, d.h. qualitäts(zer)störend – zu bewerten wäre z.B. ein mehr als zweigeschossiger Bau, der inmitten der (historisch-homogen zweigeschossig gebauten) „Fuggerei“ in Augsburg oder im Viertel „Nybodergården“ in Kopenhagen8 errichtet worden wäre.

Marinequartier.jpg


B.2

Doch wiederum anders zu bewerten ist eine Siedlung mit einem „Punkthochhaus“ mit einer ansonsten homogen und gleichartigen Bauweise (ähnlich wie die zwei zuvor genannten), aber aus den 50-/ 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, z.B. von Ernst May9 wie in Lübeck die „Papageien-Siedlung“ und in die Siedlung St. Hubertus mit je einem Hochhaus an einer städtebaulich ausgewählten Stelle. Hier ist dieser spannungsreiche Gegensatz „Hoch & Niedrig“, d.h. eine auf dieses Merkmal bezogene geplante Heterogenität, ein charakteristischer Teil des frisch entwickelten, damaligen städtebaulichen Raumkonzepts. „Qualität“ muss also benannt, kategorisiert, zeitlich und räumlich verortet – die Eigenschaften und Merkmale müssen aufgezählt und beschrieben werden, auf die man sich „qualitativ“ bezieht. Dass die Eigenschaften und Merkmale (in einem fachlichen Kontext) nicht situativ-spontan und subjektiv-verbrämt erfasst und beschrieben werden können, versteht sich von selbst. Wie eine stadträumliche Erkundung und Untersuchung fachlich und nachvollziehbar erarbeitet werden kann, ist den BAM-Texten zu entnehmen und ist mit den Übungsaufgaben praktisch zu erproben.


C.1

Wichtig bei der Bearbeitung der qualitativ-orientierten Fragestellungen ist, die Kommunikationsprozesse in der Arbeitsgruppe klar und klärend zu diskutieren und zu organisieren. Zur Verständigung über die anstehende Untersuchungssituation bei den Übungsarbeiten wie auch später im Berufsleben in den Gesprächen mit Bauherrn und Bürgern, ist ein Zurückführen auf benennbare Eigenschaften, sichtbare Merkmale und erfahrungslenkende Sehweisen hilfreich, um von subjektiven (nicht-fachlichen) Geschmacks- und Vorliebensurteilen („Qualifizierungen“) wegzuführen. Wenn man Relationen aufbauen kann von konkret-bestehenden Gestalt-Qualitäten, um das zukünftig Zu-Sehende und das Geplante besser zu verdeutlichen und zu verstehen, dann schafft man für sich und die Mitbeteiligten eine (Wort- und Verständnis-) Brücke und (-) Basis, die jenseits geschmäcklerischer und privater Vorlieben liegt. Bestimmte und benannte „architektonische und stadträumliche Gegebenheiten“ sind kommunizierbar und hilfreicher als generelle, allgemein postulierte „architektonische Qualitäten“.

C.2

Es gibt auch wissenschaftliche Untersuchungsmethoden zur Feststellung von Wahrnehmungseindrücken der gebauten Umwelt (z.B. das „Semantische Differenzial“ in der Architekturpsychologie); siehe z.B. Joachim Franke in dem Artikel „Stadtbild ‒ Zum Erleben der Wohnumgebung“; in: Stadtbauwelt Nr. 24 / 1969, S. 292ff und weitere theoretische Ansätze bei der Erforschung der Umwelt-Wahrnehmung. Weniger spezifisch genau, aber thematisch und pragmatisch zentriert stellt Ulrich Conrads vielerlei qualitative Aspekte (und diese Aspekte illustrierende Beispiele) zusammen in seinem Buch „Umwelt Stadt. Argumente und Lehrbeispiele für eine humane Architektur“ (Reinbek 1974). Er beschreibt prägnant viele städtebauliche Probleme, die auch heute (leider...) ihre Aktualität nicht verloren, sondern die sich noch verschärft haben, wie auch beispielhafte gebaute und geplante Ansätze und Lösungen. Deutlich wird die Verzahnung von städtebaulichen und architektonischen Qualitäten aufgezeigt, indem sie bildlich und textlich zurückgeführt werden auf grundlegende menschliche Bedürfnisthemen und qualitative Ansprüche (an die Stadt), woraus sich dann kritisch zu wertende oder beispielhafte planerische Ansätze ableiten lassen und nachvollziehbar werden.

Klaus Brendle (2016-23)


Literaturangaben

Conrads, Ulrich: Umwelt Stadt. Argumente und Lehrbeispiele für eine humane Architektur; Reinbek 1974

Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch; Dorsch, F. / Bergius, R. / Ries, H. / u.a. (Hrsg.); 10., neubearbeitete Auflage; Bern / Stuttgart / Wien 1982 [inzwischen in 20. Auflage erschienen]

Duden www.duden.de Stand 06.09.2017 / Juli 2023

Franke, Joachim: Stadtbild ‒ Zum Erleben der Wohnumgebung; in: Stadtbauwelt Nr. 24 / 1969, S. 292ff

Klaus, Georg / Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch; Band 2; 8., berichtigte Auflage; Berlin 1972 [zwar mit realsozialistischer Ausrichtung, jedoch umfangreich, gründlich und anschaulich]

Senat der Hansestadt Lübeck / Wohnungsbaukreditanstalt des Landes Schleswig-Holstein in Zusammenarbeit mit dem Stadtplanungsamt (Hrsg.): Stadtbildaufnahme Lübeck. 1. Fortschreibung; Kiel / Lübeck 1990 [mit nur elektronisch überarbeitetem Stand 2001 – 2008 und bis 2016]

Wörterbuch der ukrainischen Sprache; Bd. 11, Kyjiw 1980, S. 638


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1: Internet: www.duden.de Stand 06.09.2017
2: Klaus, Georg / Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch; Band 2; 8., berichtigte Auflage; Berlin 1972, S. 895ff inkl. Stichwort: Qualität und Quantität [Wörterbuch mit zwar realsozialistischer Sichtweise, jedoch umfangreich, gründlich und anschaulich]
3: Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch; Dorsch, F. / Bergius, R. / Ries, H. / u.a. (Hrsg.); 10., neubearbeitete Auflage; Bern / Stuttgart / Wien 1982, S. 545f [siehe dort auch: qualitative Merkmale]
4: Wörterbuch der ukrainischen Sprache; Bd. 11, Kyjiw 1980, S. 638
5:Wenn und weil ich im Moment nach einem Bäcker suche, übersehe ich (vielleicht) den besonderen Anblick eines wohlgeformten Schaugiebels.
6: So wie z.B. die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Barock“ eine Abwertung meinte im Sinne von „schief“ bis „merkwürdig“ und heutzutage eine neutrale Stilbezeichnung (geworden) ist.
7: Gleichwohl sollte man bei einer Stadtraum-Analyse immer Bezeichnungen suchen, die vordergründige Wertungen vermeiden. – Jedoch ein als „beengt “ wirkender Raum (wie z.T. in Daniel Libeskind’s Jüdischem Museum in Berlin) erfüllt eben damit die beabsichtigten Zwecke, wenn genau diese bestimmten Raumempfindungen (dort) angeregt werden sollen; oder bei einer Altstadtgasse kann dies auch als „heimelig“ und „reizvoll“ eingeschätzt werden.
8: Siedlung Fuggerei des 16. Jahrhundert in Augsburg (Deutschland) und das historische Marine-Wohnquartier Nybodergården des 17. Jahrhunderts in Kopenhagen (Dänemark)
9: Architekt und Städtebauer Ernst May (1886 – 1970); wichtiger deutscher Planer von Siedlungen u.a. in Frankfurt / Main, Lübeck [siehe Fotografie in 4.2.1.3.d. Abb. 68], Bremen, Hamburg, Darmstadt; als „Brigade May“ 1930 – ca.1933 in der Sowjetunion u.a. in Magnitogorsk, Leninsk-Kusnezki, Kusnezk und für Moskau tätig.