Als Architekt in d(ies)er Welt sein: „-há“ bedeutet Raum, „teko“ die Lebensweise.
„Derzeit kämpfen ca. 45.000 Guarani [-Índios1] in MG [Bundesstaat Minas Gerais in Brasilien] um ihre Territorien – genannt tekohá. Das schwer aus dem Guarani übersetzbare Konzept tekohá umfasst nicht nur ein Stück Boden zum Anbauen und Wohnen, sondern geht weit darüber hinaus. Zum tekohá gehören die Menschen, der Boden, die Wälder, die Felder, das Wasser, die Luft, die Tiere, die Pflanzen, die Heilpflanzen und in ihm wird die Vielfältigkeit ihrer Kultur und menschlichen Beziehungen gelebt. Zusammengefasst und übersetzt: tekohá ist der Raum (-há), in dem die Guarani ihre Kultur und Lebensweise (teko-) leben. (…)“2
„(…) Es geht den Guarani weniger um die „Wiedereinnahme“ ihrer traditionellen Territorien (…), als um die dauerhafte Rückkehr an jene Orte, die ihnen von den göttlichen Wesen als Lebensraum zur Verfügung gestellt wurden. – Sie sprechen von tekohá, wenn sie sich auf ihre Gruppen und auf diesen Ort, diesen Raum beziehen, der ‚Ort des Seins‘, dort, wo sie als Gruppe ihr teko, ihre von göttlichen Kräften etablierte Art zu leben verwirklichen können. (…)
Die eigentliche Legitimation (…) ihres Handelns erfolgt (…) auf der Grundlage ihres religiös-traditionellen Wissens. So sind ihre Rechte auf Rückkehr in ihr traditionelles Territorium Teil göttlich vorgesehener Bestimmung. ‚Land ist keines Menschen Eigentum. Mit Blick auf die göttliche Bestimmung wird es entwürdigt durch das, was mit ihm gemacht wird. Wie kann ein fazendeiro3 sagen, ihm gehöre das Land! Niemand kann sich das anmaßen‘, argumentiert eine bekannte Guarani-Kaiowá-Führerin. – Die Guarani wissen, dass sie aufgrund göttlichen Willens Bewohner jener Orte sein sollen, für die sie durch die Schöpfung bestimmt wurden. (…) Die Rückkehr zum tekohá [ist] (…) Ausdruck ihrer ewigen, mythischen Suche nach einem guten Wohnort, die auch die Suche nach dem Land ohne Übel genannt wird, welche die Geschichte der Guarani seit vielen Jahrhunderten kennzeichnet. (…) – [Sie ist] politischer Ausdruck eigener Prinzipien und deren Verortung im eigenen Weltbild. (…)
In rituellen Gesängen wird das Feuer erwähnt, das kommt, um die Welt zu zerstören. Die Erde kann nur existieren, wenn die Guarani in der Verbindung mit ihrem tekohá Teil von ihr sein können. Sie besitzen nicht die Erde, sondern sie ist ihnen gegeben. (…) Nach dem Guarani-Weltbild gibt es keine Alternative als dankbar dafür zu sein, dass sie weiter insistieren, als Gruppe mit jenem Ort / Raum verbunden sein zu können, wo sie Leben entfalten und gestalten können, da die Erde sonst zerstört würde. Denn ‚ohne tekohá gibt es kein teko‘. Das Leben, das Sein (teko) in seiner Fülle verwirklichen zu können, ist an die soziale Gruppe und den Ort / Raum (tekohá) gebunden, der ihnen durch göttliche Kräfte gegeben wurde.“
Textpassagen aus: Bremen, Volker von: Landrechte und die Rückkehr der Guarani an den Ort des Seins; in: KoBra Brasilicum, Ausgabe 246 / 247 Oktober 2017, S. 20ff [kursive Wörter und Klammern wie in der Vorlage; Hervorhebungen vom Autor]
Anmerkung zu diesem Exkurs:
Die Textausschnitte wollen ein anderes „Im-Raum-Sein“ als das Unsrige beschreibend andeuten: Dass der Raum und diese Welt dem Menschen gegeben – nicht etwas Zu-Eroberndes sind. Daraus ergeben sich ein vollkommen anderer Bezug und ein anderes persönliches und menschliches Verhältnis zum Ort, da diese Beziehungen (dem Text nach) nicht menschen-gemacht sind. Auch das Bauen ist damit eine Ausübung von etwas dem Bauenden Gegebenen (wie die Natur und überkommene Kultur). Der Bauende entwirft (nicht aus sich heraus) und plant nicht, sondern führt aus, was qua göttlicher Gabe und gegebener Kultur zu tun ist. Ein Architekt wäre somit nicht ein „(Neue-) Welt-Schaffender“, sondern ein diesen vorgegebenen Akt erkennender Vermittler und im besten Sinne demütig Ausübender des „Welt-Wollens“. – Durch den Versuch und Vergleich, die (Bau-) Welt gedanklich grundsätzlich anders & als etwas Gegebenes zu sehen, wird das eigene (noch zu findende?) Verhältnis zur unsrigen Welt sichtbar und transparenter. Es ist ein Denkversuch hin zu einer (für sich selbst und für die Gesellschaft) noch aufzufindenden, eigenen (architektonischen) Haltung.
Literatur und Hinweise:
- Bianca, Stefano: Architektur und Lebensform im islamischen Stadtwesen. Baugestalt und Lebensordnung in der islamischen Kultur dargestellt unter besonderer Verarbeitung marokkanischer Quellen und Beispiele; Zürich / München 1975
- Zur Thematik (anderes) „Weltbild“, welches die Grunddisposition f̲ü̲r̲ ̲j̲e̲g̲l̲i̲c̲h̲e̲ ̲W̲e̲l̲t̲s̲i̲c̲h̲t̲ - und damit auch von Bauanalysen ist, finden sich weitere Überlegungen im BAM Einleitung
- siehe auch den Film von Godfrey Reggio (Regie) „Koyaanisqatsi“ (1982); Philip Glass (Musik); in youtube https://www.youtube.com/watch?v=PirH8PADDgQ&ab_channel=JohnnyLynch
- „indigen“; Wort-Bedeutung/ -Herkunft: die erste, ursprüngliche Bevölkerung eines Gebiets (meist außerhalb Europas) betreffend oder diesem zugehörig / spätlateinisch indigenus, aus altlateinisch indu (häufig in Zusammensetzung) = in und lateinisch gignere = (er)zeugen, gebären; aus: Duden online dld. 13.07.2023 - „Die durch den Kolonialismus etablierte Fremdbezeichnung “Indianer“ oder „Indio“ wird im Rahmen der Rassismusdebatten seit den späten 2010er-Jahren zum Teil kontrovers diskutiert.“; siehe hierzu: wikipedia dld. 13.07.2023
1: índio oder indígeno (port.) | Indianer; „Die durch den Kolonialismus etablierte Fremdbezeichnung “Indianer“ oder „Indio“ wird im Rahmen der Rassismusdebatten seit den späten 2010er-Jahren zum Teil kontrovers diskutiert.“
2: aus: Bley Folly, Felipe / Castañeda Flores, Angélica: Der Kampf der Guarani und Kaiowá Brasiliens: Vom Widerstand vor Ort bis zur internationalen Solidarität; in: KoBra Brasilicum, Ausgabe 246 / 247 Oktober 2017, S. 18 [kursive Wörter und Klammern wie in der Vorlage; Hervorhebungen vom Autor]
3: fazendeiro (port.): Landbesitzer und (Gross-) Bauer
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