3.4.3.1 Standort und Örtlichkeit

Jeder Standort ist ‒ zusätzlich zu denen des konkreten Grundstücks ‒ direkt von den geographischen, räumlich-materiellen, kulturellen Gegebenheiten seiner örtlichen und funktionalen Umfeld-Situation mitgeprägt. Seine über die Mikro-Stadtebenen hinausgehende nähere und weitere Umgebung (die Meso-Stadtebenen) gibt weitere Einflussgrössen und Bezüge mit hinzu und bindet damit den Standort ein in das umgebende ländliche oder städtische Gefüge (Makro-Stadtebenen). Diese oft schon recht konstante, überdauernde und überlieferte – aber auch veränderbare und sich verändernde ‒ Einbettung eines Standortes unterliegt darüber hinaus bestimmten Bindungen, überdauernden Bedingungen und tradierten Nutz- und Sehweisen, die im BAM Erkundung als „Ortsparameter“ erfasst werden. Dieses Beziehungs-, Abhängigkeits- und anthropologische Lokalgefüge der Standort-Einbettung wird mit dem Begriff „Örtlichkeit“ erfasst. Die Inhalte und Vorgänge des die Örtlichkeit (mit-) bestimmenden Traditionsgeflechts und die längerfristig bleibenden Gewohnheiten können als soziokultureller Hintergrund nur schwer (von uns Architekten und Stadtplanern allein) kompetent erkannt und untersucht werden ‒ jedenfalls als ethnologische Einflussgrössen. Zwar können eine Fülle von ortstypischen Bauformen und -details – auch baugeschichtlicher Art – aufgefunden und untersucht werden, jedoch ist das Eigentliche, was eine bestimmte regionale Baukultur ausmacht, nicht nur über Architektur- und Stadtformen allein beschreibbar. Dazu bedarf es zusätzliches Wissen und auch die Methoden der Geographie-, Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Dies ist auch der Grund die „Orts- und Zeitparameter“ als Gestalt-Operatoren einzustufen, da sie relativ beharrend und stabil(isierend) die „regionalen Bauwelten“ tradieren.

Wenn man sich beim Planen & Bauen nicht in „seiner eigenen heimatlichen Sphäre“ städtebaulich und architektonisch bewegt, stellt sich ein „einvernehmliches planerisches Arbeiten“ mit bzw. in einer fremden Umgebung nicht ohne die erforderlichen Anstrengungen ein. Sich mit einer spezifisch-anderen (ggf. klimatischen, geographischen, traditionellen, sprachlichen und sozialen Art und Weise) kulturell fremden Örtlichkeit auseinanderzusetzen, ist eine besondere Herausforderung beim „globalen“ Planen und Arbeiten in anderen Regionen. ‒ Für die Zwecke dieses städtebaulichen BAM-Lehrmoduls (hier in Mitteleuropa) wird die Analyse-Thematik „Örtlichkeit“ und „Regionalität“ jedoch nur kurz als wichtige Begrifflichkeit eingeführt und nur durch einige wenige Beispiele illustriert werden.

Hinweis

Hier bei den Übungsaufgaben, die an dem Ihnen bekannten Ort der Hochschule bearbeitet werden, wird diese komplexe (Kulturvergleichs- und Analyse-) Thematik nicht speziell erfragt und herausgearbeitet. Sie ist jedoch implizit (mehr oder weniger) in allen zu untersuchenden Stadt- und Architekturthemen (mit) enthalten. Die Thematik der Ortsverbundenheit kann in Einzelfällen in Ihrem Übungsgebiet und bei den Fragen nach den Entstehungsbedingungen an Ihrem Untersuchungsort auftauchen. Aber mit einem wachen, sensiblen Blick sind sie erkennbar und können somit als ortstypisch „lübsch“, hamburgisch, müncherisch etc. eingeordnet werden. Eine gründliche Standortuntersuchung ist „immer“ auf der Suche nach lokalspezifischen Ortsparametern, die zur Identitätsbeschreibung eines Ortes und seiner kulturellen Einbettung mit beitragen.

Die folgenden Beispiele sollen Ihnen mittels einer (eventuellen) „Fremdheit“ helfen, Ihre eigene Stadt- und Ortserfahrungen und das Wissen darüber zu erkennen und zu erweitern. Der Kontrast zu den bisherigen eigenen (subjektiven) Stadterfahrungen sensibilisiert und schult das Wahrnehmen der „Örtlichkeit selbst“ – ihrem „genius loci“47 – und darüber wird man empfindsamer für den bislang selbstverständlich und unbewusst gelebten eigenen Stadtgebrauch und seine bauliche Ausgestaltung. Der englische Stadtplaner Gordon Cullen48 erläutert 1988 in seinen skizzenhaften und skizzenreichen Kurzstudien die verschiedensten Aspekte, was „Stadt ausmacht“ bzw. wie sie sein solle und könnte. Dabei ist auch ein kleiner Text mit dem Titel „The English Climate“. Darin notiert er, dass eigentlich jede (englische) Stadt voll sei von Schönheit und Dramen, Verkehr, Menschenmassen, vielleicht mit einem Fluss und vielen weiteren Schätzen. Aber selten gelänge es den Bewohnern, dies alles selbst zu betrachten und zu beobachten. Die englischen Städte zeigten sich meist atmosphärisch verschlossen und hierfür „unzugänglich“, und nur wenige Engländer könnten den Unterschied zu den mehr offenen und sich offen zeigenden Städten Europas ersehen. Dort habe der Mensch das Privileg in den städtischen Strassen zu sitzen und selbst in das Stadtgeschehen einzutauchen, und es – und sich – als Teilhaber zu betrachten; und dieses Phänomen sei es, was „(…) we mean by the magic word continental. The reason lies not in the English character but in the English climate (…)“. Es folgen dann noch ein paar Vorschläge, wie solch kontemplatives, reflektierendes und teilhabendes Verhalten im öffentlichen Raum dem englischen Klima dennoch abzutrotzen sei. Das Thema „Örtlichkeit“ betreffend, ist für uns diese Anmerkung über die geographischen Wetterbedingungen jedoch ein Beispiel und Beleg dafür, wie prägend und verhaltensregelnd regionale und klimatische Bedingungen für den öffentlichen Raum sind, soweit man diese nicht mit künstlichen Innenwelten umgeht.

Ähnliche „fremde“ Erfahrungen schildert die deutsche Lichtplanerin Ulrike Brandi aus Hamburg für das Erleben von Licht und über die „Lichtkulturen“ in verschiedenen Städten und Regionen der Welt. „Die unterschiedlichen Verhältnisse der Menschen zum Licht sind abhängig von den jeweils bewohnten Breitengraden, den damit in Zusammenhang stehenden jeweiligen Dämmerungsphasen und dem Vermögen des menschlichen Auges, sich an unterschiedliche Umgebungshelligkeiten anzupassen. Die Änderung hin zu einer optimalen Lichtempfindlichkeit unserer Netzhaut erfolgt mit einer gewissen Verzögerung. Erst nach etwa 20 Minuten können wir auch im Dunkeln sehen. – Daher haben wir hier im Hamburger Norden ein ganz anderes Verhältnis zum Licht als die Menschen, die am Äquator leben, wo es keine Dämmerungsphase gibt, und sich die Augen der Menschen so nicht an das Dunkel gewöhnen können. Und deshalb möchte man in diesen Gegenden das schwindende Tageslicht auch möglichst schnell durch möglichst helles Kunstlicht ersetzen. So sind im Bereich des Äquators teilweise grelle Lichtfarben von 5.000 bis 8.000 Kelvin für die Beleuchtung der Städte gefragt. Bei uns erzeugt dies eher einen Schock. Hier in Hamburg brauchen wir solche Lichtfarben nicht und mögen das warme Licht, weiter im Norden benötigen die Menschen noch geringere Lichtmengen für die Beleuchtung ihrer Umwelt. (…) Trotz zunehmender Angleichung der Städte, der Flughäfen, der Geschäfte bleiben die Lichtverhältnisse dieser Orte verschieden. (…) Das natürliche Licht steht stets im Zusammenhang mit der Landschaft – und die jeweiligen Lichtverhältnisse prägen immer unser Selbstverständnis, unser Gefühl von Heimat.“49

Die folgenden, nur stichwortartigen Aufzählungen von einigen Ortsparametern greifen unsystematisch ein paar regionstypische Aspekte und Erfahrungen heraus und werfen beispielhaft und veranschaulichend gemeint ein paar Streiflichter auf die vielschichtige Thematik „Örtlichkeit“ und „Regionalität“, die eigentlich einer breiten inhaltlichen Analyse und tiefergehende Erarbeitung der fremden, jeweiligen „regionalen Baukultur“50 bedarf. Die ausgewählten Beispiele können jedoch anregen, die eigene Stadt mit „fremden Augen“ zu sehen und der fremden Stadt mit den eigenen Augen ihre (möglicherweise) andersartigen Grundzüge und Details abzulesen. Neben den generellen, übergreifenden kontinentalen, regionalen und geographischen Ortsparametern und kulturellen Phänomenen werden beispielhaft auch einige „kleinere“, typische baukulturelle Einzelaspekte und Eigenarten genannt. Diese zeigen auf, dass die örtlichen Lebensweisen, Gegebenheiten, Traditionen, Moden und Vorschriften auf allen Ebenen gestalt- und detail-erzeugend sein können, d.h. dass die kultur-bedingte bauliche Erscheinung von Städten und Gebäuden durch sie (mit-) geformt werden.

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47: Norberg-Schulz, Christian: Genius Loci. Landschaft, Lebensraum, Baukunst; Stuttgart 1982
48: Cullen, Gordon: The Concise Townscape; Reprint; London / Singapore / Sydney / Wellington 1988; S. 162f
49: Brandi, Ulrike, S. 12ff (2017)
50: siehe z.B. „Kritischer Regionalismus“: Frampton, Kenneth: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte; 1. Auflage der überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe in deutscher Sprache (der 8. Auflage) München 2010; insbesonders Teil III Kapitel 5: Kritischer Regionalismus: moderne Architektur und kulturelle Identität, S. 269ff