Dieser Begriff meint die überwiegende Anzahl der gängigen, üblichen Bauten einer Ortschaft für das alltägliche Leben und Arbeiten. Man könnte auch sagen, er bezeichnet die „normalen Grund-Bausteine“ der gebauten Umwelt. Da in früheren Zeiten – und auch noch heute in anderen Teilen der Welt – die einzelnen Lebensfunktionen nicht so klar und räumlich getrennt ausdifferenziert, sondern viele Funktionen unter „einem Dach“ organisiert waren, ist das frühere „Wohnen“ nicht direkt vergleichbar mit dem, was wir es heutzutage z.B. in Europa darunter verstehen.16 Bis ins Mittelalter bestand die Stadt aus einer grossen Masse an ähnlichen baulichen Einheiten für Arbeiten mit Wohnen, d.h. aus „multifunktionalen Häusern“ (aber auch ärmlicheren Wohnstätten) und aus nur wenigen besonderen Gebäuden mit speziellen Nutzungen. Deren sich aus den besonderen Funktionen ergebende besondere Baugestalt prägt/e zusammen mit den umgebenden, damit verknüpften „normalen Arealen“ die Architekturerscheinung der Stadt (siehe hierzu als Beispiel die folgende historische Abbildung von Kairo und 3.4.2.1.3). Der Architekt und Architekturtheoretiker Aldo Rossi beschrieb dies Zusammenwirken als „Stadtarchitektur“, bestehend aus den allgemeinen „Wohnarealen“ und den gemeinschaftsorientierten „primären Elementen“, die hier im Modul als „Sonderbauseine“ bezeichnet werden.
Die fortlaufende Differenzierung in aufgetrennte, unterschiedliche Wohn- und Arbeitsformen und den dazu passenden Bauformen geschah in Europa im Zuge der Industrialisierung. Diese fortschreitende Gebrauchs- und Gebäudeentwicklung im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen korrespondiert mit den neuen städtebaulichen Organisations- und Bebauungsformen der Stadt. In immer neuen Schüben wird bis heute die Stadtbebauung immer wieder um- und neugeformt, soweit es der überlieferte Bestand zulässt oder wenn dieser beseitigt oder zerstört wird. Trotz dieser breiten Ausdifferenzierung, Spezialisierungen und Individualisierung der Alltagsnutzungen bilden diese „normalen“ Stadt-Bausteine17 auch heute den „allgemeinen Hintergrund“ und Bezugsrahmen der besonderen Stadt-Bausteine18. Im „klassischen, traditionellen Städtebau“ besteht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Masse der Normalbebauung und den wenigen herausragenden Sonderbauten (siehe hierzu z.B. die Fotografie der Lübecker Altstadt-Silhouette in Abschnitt 3.4.2.1.3).
Anhand von Gestalt-Kriterien und Bauformen lassen sich die einzelnen Gebäudearten und -konstellationen, ihre räumliche Stellung zueinander aufgrund ihrer typologischen Erschliessungsarten, wie auch nach der Art ihrer Kombination (Reihung, Clusterbildung, Stapelung, Ensemble etc.) unterscheiden und kategorisieren. Dabei spielen bei manchen von ihnen die mit ihnen verbundenen Freiflächen eine ebenso wichtige Rolle wie die Bauten selbst. Bürlin und Peterek (2008) benennen ‒ zur Unterscheidung, Kategorisierung und Beschreibung der abstrakten, „reinen Stadt-Bausteine“ ‒ drei Hauptaspekte, durch die die Stadt-Regelbausteine die gebaute Umwelt formen und auf diese einwirken:
Viele der hier skizzierten Stadt-Regelbausteine werden in dem kleinen Handbuch von Bürlin und Peterek (2008) ausführlich erläutert und durch – auch baugeschichtlich wichtige – Beispiele vorgestellt. Durch die örtliche Anpassung, Spezifizierung und die Vermischung der verschiedenen Bausteine untereinander ergeben sich unzählige unterschiedliche Varianten und Ausführungen der zugrundliegenden, abstrakt gedachten Stadt-Regelbausteine. Damit tragen sie massgeblich zur Gestaltbildung der Orts- und Stadtgebiete und ihrer Stadtarchitektur mit bei (siehe hierzu auch die weiteren Modifikatoren unter 3.4.2.2 und 3.4.2.3) Im Folgenden eine Reihe von unterschiedlichen Stadt-Regelbausteinen und ihre Bebauungsarten und -beispiele:
Z.B. alleinstehend, mit umgebendem Freiraum, mehrere Bauten ggf. weiträumig-locker gereiht bzw. visuell nahezu unverbunden (jedoch keine stadträumlich-wirkende und -gliedernde Solitärbauten!; siehe hierzu den folgenden Abschnitt 3.4.2.1.3 „Stadt-Sonderbausteine“) etc.
Z.B. ein-/ zweiseitig entlang einer Strasse, geschlossen, offen-/eng gereiht, verkettet, bis hin zum aneinandergebauten Reihenhaus, aber auch freie Anordnungen wie versetzt, geschwungen, frei aufeinander bezogen etc.. Mehrere Häuserreihen (wie im folgenden Luftbild die Reihenhaus-Anlage im Bild unten) können eine Gruppe bilden; siehe 4.2.1.2.g.
Z.B. mit unterschiedlichen Eckausbildungen bis zu offenen Ecken; regelmässige bis freiere, geschlossene bis etwas geöffnete Ausformungen bis hin zu Grossblock-Ensembles (skulpturale Gross-Siedlungsensembles der 1960 ‒ 70er Jahre wie das Märkische Viertel in Berlin, in Stuttgart-Freiberg / Deutschland oder in Kiew / Ukraine im [Stadteil] Rajon Dnipro bis heute) etc.
Grössere geschlossene bis taschenartige Ausformungen, gebildet durch mehrere Gebäude oder Flügelgebäude, zentraler oder halböffentlicher Innenraum (auch) für eine grössere Einrichtung u.ä.; z.B. Vorhof, Ehrenhof (eines Schlosses: Cour d'honneur), historische Hoferschliessung für „Zinshäuser“20 in Chernivtsi | Czernowitz, oft auch bei gemeinschaftsorientierter Wohnanlage oder Institution, Karawanserei-Hof etc.
Z.B. „additive“ oder „gekoppelte “ 21 (letzteres meint grundriss-gespiegelte) Zeilen; geschwungen, mäandernd, versetzt, geknickt, gefächert, gestaffelt etc. Stadträumlich wichtig sind hierbei grosszügige, ordnende, erschliessende und wohnumfeld-nahe Frei-, Erschliessungs- und Grünflächen 22 zwischen und quer zu den aufgereihten Zeilenbauten etc. Es gibt auch deutlich lange Zeilen-Gebäude entlang einer Strasse ohne Teil eines Blockes zu sein aufgrund spezieller örtlicher Bedingungen (z.B. Lärmschutz für ein angrenzendes Wohngebiet; eine verankernde oder stabilisierende, raumgestalterische Funktion), z.B. die Byker Wall in Newcastle / England (1968 – ca. 1982; Architekt Ralph Erskine) oder in der südlichen Siemensstadt in Berlin entlang der Bahnlinie (Architekt Otto Bartning) sowie als „räumliche Baumassen-Grundlinie“ für die gegenüberliegende Zeilen-Bebauung (Architekt Hugo Häring); siehe hierzu die Lagepläne unten.
Hinweis zur „Ringsiedlung“: „Der Ring“ war eine Vereinigung von modernen Architekten von 1924 bzw. 1926 bis 1933; u.a. Otto Bartning, Peter Behrens, Richard Döcker, Walter Gropius, Hugo Häring, Otto Haesler, Ludwig Hilbersheimer, Ernst May, Erich Mendelsohn, Hans Poelzig, Mies van der Rohe, Hans Scharoun, Bruno und Max Taut, Heinrich Tessenow.
Die Passage / der Durchgang von der Strasse (meist durch ein Vordergebäude) ausgehend, ein Quartier querend oder einen inneren Teil eines Baublocks erschliessend; z.B. geradlinig, verwinkelt, als internes Gassen- oder Bazarsystem, Einkaufspassage; auch für die Erschliessung von Wohnungen und blockinternen Häusern genutzt etc.; z.B. in Sonderformen als „roof street“ auf dem Dach (London) und bei der historischen Block-Binnenerschliessung in Form von sogenannten „Gängen“ in Lübeck.
Vielfältig gestaltbar, z.B. abgegrenzt nach aussen, eine Bebauung intern gliedernd, ggf. kleinere Ensemble- und Gebäudeanlagen, traditionell-gegliederte Siedlung bei Naturvölkern, Flachbau-Clusterbildung in Form einer Teppich- bzw. Atrium-Siedlung, spezielle vertikale Stapelung wie beim Terrassenhaus bis hin zur komponierten Gross-Siedlung etc.
Die „Kiste“23 oder „Box“ – unförmige, ungefügig hingestellte, freistehende „gebaute Hülle“; z.B. flächige Gewerbe- und Industriebauten, ungestaltete grossvolumige Baukörper, ohne raumbildende Absichten und nahezu ohne Form-Anspruch.
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16: Nur schon der Wandel der Wohnweise des 19. Jahrhundert in die des 20. Jahrhunderts zeigt deutlich grundlegende Veränderungen; z.B. vermittelt durch das „Museum für Alltagskultur“ (in Waldenbuch); siehe hierzu auf der Webseite unter „Ausstellungen“: Wohnwelten mit Wohnstudio (siehe Video: „Helden des Alltags“) / Wohnwirklichkeiten, Schloss und Jagd / Zeitsprünge sowie unter „Sammlung“: Wohnen (Stand 05.08.2017). Siehe auch über die dänische Wohnkultur im Museum „Den Gamle By“ in Aarhus / Dänemark unter: http://www.dengamleby.dk/ (Stand 16.08.17) sowie „Geschichte des Wohnens“ (5 Bde. / 1996 – 1999)
17: Die Formulierung und propagierte Eigenschaft „Normalität im Bauen“ prägte Paulhans Peters, z.B. als Heftthema in der Ausgabe des Baumeister Nr. 2 / 1980, und meinte dies als (architektonische) Qualität für das alltägliche Bauen im Verhältnis zu den besonderen Gebäuden und ihrer Architekturgestaltung; weiteres siehe unter „Normalität“ im Literasturverzeichnis.
18: Aldo Rossi spricht in seiner analytischen Stadt-Betrachtung nur von „Wohnarealen“ (d.h. flächigen und nutzungsbezogenen Gebietseigenschaften und nicht von der dortigen Bebauung) im Verhältnis zu den architektonisch-wichtigeren, stadträumlichen „primären Elementen“, weil er diesen (Sonderbausteinen) mehr architektonische Wirkung und kulturelle Beständigkeit für die „Stadtarchitektur“ zuschreibt [die angeführten „Begriffe“ benutzt Aldo Rossi].
19: In Brasília gibt es statt Strassennamen die bezifferten „Superquadras“, anhand derer die Lage benannt wird, und womit man sich im Alltag orientiert.
20: „Zinshaus“: Österreichische Bezeichnung aus dem 19. Jahrhundert für Mietwohnungsbau, vor allem in Wien; ein durch ein Vorderhaus an der Strasse erschlossener Innenhof, der mehrgeschossig umbaut ist und dessen Wohnungen über Stiegenhäuser und Laubengänge erreichbar sind.
21: nach Bürklin / Peterek (2008), S. 42f
22: Allerdings werden die Freiräume oft zu kaum nutzbaren, reinen Abstandsflächen degradiert oder nachträglich durch Zäune aufgeteilt und getrennt.
23: nach Bürklin / Peterek (2008), S. 64ff. – Ausschlaggebend für eine Zuordnung ist nicht die schiere Grösse oder Massigkeit, sondern das Fehlen formender Gestalt-Überlegungen zu dem Baukörper selbst und / oder seiner stadträumlichen Beziehungen zur Umgebung und zur Nachbarbebauung.