KYBERNETIK UND FREIHEIT
"Um einen Organismus zu beschreiben, versuchen wir nicht, jedes einzelne Molekül in ihm zu spezifizieren, und ihn Stück für Stück zu katalogisieren, sondern eher, gewisse Fragen über ihn zu beantworten, die seine Struktur entschleiern (…)".1 Diese Worte des Mathematikers Norbert Wiener legen eine Verwendung kybernetischer Modelle bei der Untersuchung [einer italienischen, historischen Stadt namens Sorano] nahe.
(…) [Es] kann Architektur im systemtheoretischen Ansatz (…) gesehen werden (…) [Dieser Ansatz] der Erkenntnis der Interdisziplinarität der Vorgänge und der Wechselwirkung der Systeme [muss] das Bewusstsein folgen, dass Architektur Stadium einer Dynamik ist, welche Impulse, die aus einem ganz anderen Spektrum angrenzender Disziplinen kommen, erfährt, verarbeitet, modifiziert und weitersendet. Ohne diese (…) Sicht, die keineswegs den Wert der Baukunst abzumindern trachtet, sondern lediglich bestrebt ist, sie in das Licht eines umfassenderen Kontextes zu rücken, kann kein Gebäude, geschweige denn eine Stadt verstanden werden. Während aber die Produktion eines Gebäudes von vielen Variablen abhängig ist, wird der vollendete Bau in der urbanen Struktur sehr schnell zu einer Invariablen, die in neue Zyklen einzufliessen vermag und so wiederum den Gesamtprozess beeinflusst. Die Einflussgrösse, die diese Wiederaufnahme von Informationen aus Gegenwart und Vergangenheit ermöglicht, indem sie den architektonischen Kreislauf schliesst, ist die Tradition. Vorläufig wertungsfrei, kann ihr Begriff in historisierende Stagnation, reaktionäres Wiederholen gegebener Daten münden, wie auch in bewusstes, reflektierendes Verhalten, das progressive Kräfte besonnen einsetzt. Sie steht in direkter Abhängigkeit vom Mythos, der sie geistig legitimiert, indem er ihre konservative Tendenz in den Zusammenhang einer weltanschaulich bewährten Gesamtordnung eingliedert, und [sie] wirkt im städtischen System als eine Rückkopplung oder Feedback-Vorrichtung, welche bereits Dagewesenes erneut einfliessen lässt.
Die Rolle des Speichers – den wir der Tradition gleichsetzen können – als Einrichtung für die Auswahl und Selektion von Information steht im Mittelpunkt dieser funktionalen Betrachtung. Er nimmt Daten aus der Vergangenheit (historische Bauformen), Gegenwart (aktuelle Bauformen) und Zukunft (mögliche, denkbare, utopische Bauformen) auf und vergleicht sie untereinander, eventuell auch mit eingetroffenen Störungen (Botschaften aus anderen Städten mit neuen, verschiedenen Bauformen; revolutionäre Ideen innerhalb der Einwohnerschaft). Je nach Eingabe informiert er dann die Kontrollfaktoren, die sich aus Topographie, Klima, technologischem Stand, sozialer Struktur und anderen Variablen zusammensetzen. Weiterhin bestimmen diese Kontrollfaktoren den Input – also Standort, Material, konkretisierte Lebensverhältnisse –, die Tätigkeit der Konstruktion und den daraus folgenden Output der Stadt, welcher dann seinerseits als Gegenwartselement wieder in den Speicher einfliesst und mit diesem Feedback den architektonischen Prozess abschliesst.
Soweit das grundlegende kybernetische Modell; in der Anwendung auf die realen Ereignisse muss man jedoch drei verschiedene Systemarten unterscheiden.
Das erste System
Als erstes soll jene [Systemart] betrachtet werden, welche mit einer konservativen, invarianten Speicherung funktioniert. Sie beschreibt eine primitive Architektur, in welcher Daten der Vergangenheit die Auswahl des Inputs und die Kontrolle der Konstruktion und Gestaltung übernehmen. Aus der Zukunft, aus der Vorstellung des Möglichen und Experimentellen, fliesst keine Information ein, und auch die Rückkopplung der gegenwärtigen Leistung ist so gering, dass sie gleich Null gesetzt zu werden vermag; die Eingabe von Botschaftselementen in den Speicher erfolgt nahezu ausschliesslich aus der Vergangenheit (s. Schema 2).
Dieses System beruht auf zurückliegenden Erfahrungen und (…) weist schon auf die Nachteile eines solchen ausschliesslichen Systems hin. Erhält es einerseits eine grosse Menge an eindeutiger Information, an (…) verständlicher Bedeutung, so ist es andererseits starr und stagnierend. Nicht in der Lage, sich den verändernden Umständen einer dynamischen Umwelt anzupassen, wird es auf die Dauer unweigerlich museal (…).
Das zweite System
Das andere System, das untersucht werden soll, verbindet die starke Bestimmung, die es von der Vergangenheit erfährt, mit der Fähigkeit, sich der gegenwärtigen dynamischen Umwelt anzupassen. Das geschieht durch das Feedback der Traditionen, welcher Daten aus der Gegenwart in den Speicher einführt und auf diese Weise Änderungen ermöglicht. Machen sich diese Änderungen in Wirklichkeit zwar nur bedingt bemerkbar, (…) so können dennoch die ältesten, überholtesten und ineffizientesten Daten zugunsten neuer Initiativen fallengelassen werden. [Dies] (…) konnte (…) die Überlebensfähigkeit des urbanen Systems [in Sorano] gewährleisten. (…)
Das dritte System
Hierbei gehen die Impulse der Vergangenheit gegen Null, während zur Rückkopplung aus der gegenwärtigen Situation noch das Streben nach zukunftsbezogener und experimenteller Vorstellung verstärkt hinzukommt.
Dieses letzte System (…) ist zweifelsohne jenes, welchem die Fähigkeit der dynamischen Umweltanpassung und somit des Überlebens am meisten eigen ist. Allein fehlt ihm, wegen der mangelnden Beziehung zur Vergangenheit, jener signifikante Bedeutungsgehalt, der den formalen Wert des (…) Systems (…) [einer historischen] Baukunst ausmacht; die Architektur wird stumm.
(…)
Architektur machen ist, wie jede andere kulturelle Tätigkeit auch, nie ein Handeln nach Patentrezepten; sondern eine unablässige, mühsame, manchmal zermürbende Suche nach neuen Wegen des Ausdrucks. (…)“
Textauszüge aus:
Magnago-Lampugnani, Vittorio: Architektur und Vergangenheit. Das Gestern gibt Antwort auf Fragen von heute. Die Geschichte muss wiedererkannt, aufgenommen und verarbeitet werden;
in: Baukultur (Erstausgabe der Zeitschrift o. Nr.) 1979, S. 5ff; [Textauszug unter Weglassung einiger Fussnoten und mit starken Einkürzungen; Unterstreichungen, Fettdruck und Kolorierung der vier Schemata durch K. Brendle]
1: Wiener, Norbert: The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society [1950]; London 1989 (online letzter Abruf 07.07.2017), Kap. V Organization as the Message, S. 95. ‒ Der zitierte Textteil ist nicht in der dt. Übersetzung enthalten am Anfang des Kap. VI „Der Mensch – eine Nachricht“, in: Wiener, Norbert: Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft; 4. unveränderte Auflage (1.Auflage 1952); Frankfurt / Main o. J. (erschienen nach 1966), S. 94. ‒ Der Textauszug verwendet im Folgenden kybernetisch-konotierte Begriffe wie „Speicher, Information, Daten, Input, Output, Kontrolle, Feedback, Konstruktion, Störung“ etc.
2: Die Kybernetik ist die Lehre der Steuerung, der Regelung, der Kontrolle. Vergleiche hierzu: Norbert Wiener: Cybernetics of Control and Communication in the Animal and the Machine; New York 1948
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