5.7 Exkurs 7: Architekturqualitäten (Stbau.-3)

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„'''Qualität''', Eigenschaft, Beschaffenheit, Eigenart, Güte, das nicht messbare »Wie« und »Was« im Gegensatz zu => Quantität. In der Psychologie wird unter Qualität die Eigenart eines Erlebnisinhaltes verstanden, z.B. bestimmte Farbe, bestimmter Ton, bestimmtes Gefühl. Innerhalb der Qualitäten der »Empfindungen« (sensorische Informationskanäle) unterscheidet man die => Modalitäten. => auch: Intensität. (...)"<sup>3</sup>  (=> = siehe)
„'''Qualität''', Eigenschaft, Beschaffenheit, Eigenart, Güte, das nicht messbare »Wie« und »Was« im Gegensatz zu => Quantität. In der Psychologie wird unter Qualität die Eigenart eines Erlebnisinhaltes verstanden, z.B. bestimmte Farbe, bestimmter Ton, bestimmtes Gefühl. Innerhalb der Qualitäten der »Empfindungen« (sensorische Informationskanäle) unterscheidet man die => Modalitäten. => auch: Intensität. (...)"<sup>3</sup>  (=> = siehe)


Alle Erklärungsauflistungen der '''Wortbedeutung''' von „Qualität/en“ verweisen, wie häufig beim Nachschlagen, ''erstens'' auf weitere, mehrere Wissens- und Anwendungsfelder mit (leicht) abweichendem Sinngehalt, womit die gesuchte Begriffserläuterung weiter eingekreist – oder erweitert wird. (Dies als ein allgemeiner Hinweis auf die '''Komplexität''' und die '''Kontextabhängigkeit''' von Wortbedeutungen.) Die wahrnehmungsorientierten, psychologischen Worterklärungen sind hier diejenigen, nach denen wir suchen. Eine ''zweite'' Gemeinsamkeit der drei Worterläuterungen der angeführten Nachschlagewerke finden wir in dem Hinweis darauf, dass die Wortbedeutungen des gesuchten Begriffs '''Wertungen''' beinhalten bzw. ausdrücken (können). Dies ist ein wichtiger Hinweis für das Verständnis und die Einordnung der gesuchten '''Begriffsspezifizierung''' für den Anwendungsbereich in der Architektur und im Städtebau.


Die uns interessierenden Worterläuterungen verweisen auf einen undefinierten, breiten Kanon von '''Eigenschaften''' (Attributen), die einem untersuchten Gegenstand zugeschrieben werden können oder / und müssen, um seine „Qualität/en“, seine Beschaffenheit zu erfassen. Der Begriff „Qualität“ fordert die möglichst genaue und umfassende Angabe von beschreibenden, benennenden Antworten darauf, wie ein Ding, ein Raum – ein Haus, ein städtischer Platz beschaffen ist. Das Wort „Qualität“ ist somit nur eine '''leere Worthülse''', die genaue Daten und Angaben verlangt darüber, wie etwas aussieht, erfahren wird, gegliedert ist, woraus es besteht, was es womit bewirkt, welche Beziehungen es nach aussen und nach innen hat usw.. Neben der Vielzahl von erforderlichen bzw. möglichen Aufzählungen an Eigenschaften kommt als weitere Schwierigkeit hinzu, dass alle diese „qualitativen“ und atmosphärischen, beschreibenden Begriffe und Bezeichnungen (vor allem in den Kategorien 4.2.2.0. „Ordnungsfaktoren“ und 4.2.3.0. „Gestalt-Merkmale“) – umgangssprachlich – „normalerweise“ bestimmte '''Wertungen''' enthalten: etwas „Dunkles“ wird verbunden mit negativen, gefährdenden Assoziationen, etwas „Monumentales“ mit kalter Machtausübung, etwas „Lebendiges“ ist verbunden mit Positivem versus zu etwas „Leblosem“ usw.; z.B. hier ein ungleichmässig aufgebautes, heterogenes Strassenbild und dagegen ein einheitlich harmonisches Strassenbild.


Als drittes Moment kommt hinzu, was in den drei Worterläuterungen nicht thematisiert wird, dass der momentane, tatsächliche Eindruck eines Gegenstandes – eines Bauobjekts oder Raumes – beim Betrachter und Nutzer durch dessen jeweilige individuelle und situative '''Wahrnehmungsdisposition''' und seine '''Handlungsziele'''<sup>4</sup> mitbestimmt wird; sogar das „Überhaupt-Wahrnehmen“ von etwas ist durch den aktuellen Wahrnehmungsstatus bedingt. Und die früheren und gespeicherten, ähnlichen Erfahrungen des Wahrnehmenden spielen als „'''Referenzobjekt'''“ eine Rolle bei den bewussten wie unbewussten Re- /Aktionen in der konkreten Betrachtungssituation. All dies beeinflusst das, was bei einer analytischen Beschreibung den inhaltsleeren Begriff „Qualität/en“ füllt, die tatsächliche Beschaffenheit aufzeigt und damit erst seine Qualität/en nachvollziehbar macht.
<loop_figure title="Fassadenabwicklung Nordseite der Glockengießerstrasse in Lübeck" description="Quelle: Stadtbildaufnahme Lübeck (1990, S. 6 - Block 8.2.; Originalmasstab M 1:500 - verkleinert)">[[File:fassadenabwicklung_exkurs.PNG|700px]]</loop_figure>
Eine Strasse wie die Glockengießerstrasse (siehe Abb.) mit ihrer recht unterschiedlichen Bebauung und heterogene Fassadenabfolge – d.h. ohne deutlich sichtbare (ordnende) Gestaltungsregeln – von grossen und kleinen Häusern, trauf- und giebelständig gemischt, aus verschiedensten Bauepochen entlang einer Strasse, wird fachlich üblicherweise – auch oft gestalterisch – als '''negativ bewertet''' (= ungeordnet, chaotisch, durcheinander, regellos und zufällig...). Erst recht, wenn solch Strassen-Längsbebauung ohne sichtbar-historische Verortung oder gar gänzlich neugebaut wäre. Diese Strasse in Lübecks Altstadt wird jedoch kaum jemand auf diese Weise abqualifizieren (wollen), obwohl eine Gestaltungsanalyse, z.B. der unterschiedlichen Hausvolumina oder der Traufhöhen, grösste Unterschiede aufzeigt. Man sieht an diesem Beispiel, dass ein vielfach ungeordnetes, heterogenes Strassenbild – welches viele weitere unterschiedliche (z.B. mit und ohne Zwerchgiebel, verschieden Materialien) wie auch einheitlicher, angeordnete Gestaltungselemente aufweist (z.B. Lochfassaden, ähnliche Hausbreiten, jedoch auch hierbei mit Abweichungen) – insgesamt als qualitativ '''positiv''' bewertet werden kann. (Hier als „vielfältig“ zu kennzeichnen. – Jedoch solch‘ Bewertungen ändern sich auch in der Zeit und über die Zeiten! 1960 sah und bewertete man das – auch in Lübeck – anders und machte Abrissplanungen für solche Altstadtquartiere.) Dies zeigt, dass alle / viele dieser qualitativen Begriffe je nach Ort / Situation / Bauepoche / Region usw. zwar implizit und ggf. dem Wortlaut nach, erkennbar Bewertungen enthalten, sie jedoch auch als Beschreibungsweisen „'''wertneutral'''“ benutzt werden<sup>5</sup> (können), sofern man diese Bewertungsanteile herausarbeitet, extrahiert und (gedanklich) eliminiert. Solche Eigenschaftsbezeichnungen sind hier in unserem fachlichen Gestaltanalyse-Kontext somit als „'''neutrale'''“ '''Begriffe''' und '''Beschreibungen'''<sup>6</sup> zu verstehen.


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Version vom 7. November 2017, 18:28 Uhr

Exkurs 7: Architekturqualitäten (Stbau.-3)

„Architekturqualitäten“ – Anmerkungen zu einer Floskel?

Schauen wir in einschlägige Wörterbücher bzw. ins Internet, dann finden wir unter dem entsprechenden Stichwort zwar unterschiedliche und themenbezogene, aber ähnliche Worterklärungen und Anwendungsfelder. Qualität ist...

...im Duden
Bedeutungsübersicht:

1. a. (bildungssprachlich) Gesamtheit der charakteristischen Eigenschaften (einer Sache, Person); Beschaffenheit

b. (Sprachwissenschaft) Klangfarbe eines Lauts (im Unterschied zur Quantität)
c. (Textilindustrie) Material einer bestimmten Art, Beschaffenheit

2. a. (bildungssprachlich) [charakteristische] Eigenschaft (einer Sache, Person)

b. gute Eigenschaft (einer Sache, Person)

3. a. Güte

b. etwas von einer bestimmten Qualität

Herkunft:
lateinisch qualitas = Beschaffenheit, Eigenschaft, zu: qualis = wie beschaffen“1

... in Klaus / Buhr:
„Qualität [lat.] – eigentlich: Beschaffenheit; in der Umgangssprache, in Redewendungen – wie «ausgezeichnete» oder «schlechte Qualität» – mit einer bestimmten Wertung verbundener Begriff, der die Zweckangemessenheit eines Dinges (meistens ein Produkt der menschlichen Arbeitstätigkeit) bzw. der Eigenschaften eines Gegenstands zum Ausdruck bringt. (...)“2

... im Dorsch:
Qualität, Eigenschaft, Beschaffenheit, Eigenart, Güte, das nicht messbare »Wie« und »Was« im Gegensatz zu => Quantität. In der Psychologie wird unter Qualität die Eigenart eines Erlebnisinhaltes verstanden, z.B. bestimmte Farbe, bestimmter Ton, bestimmtes Gefühl. Innerhalb der Qualitäten der »Empfindungen« (sensorische Informationskanäle) unterscheidet man die => Modalitäten. => auch: Intensität. (...)"3 (=> = siehe)

Alle Erklärungsauflistungen der Wortbedeutung von „Qualität/en“ verweisen, wie häufig beim Nachschlagen, erstens auf weitere, mehrere Wissens- und Anwendungsfelder mit (leicht) abweichendem Sinngehalt, womit die gesuchte Begriffserläuterung weiter eingekreist – oder erweitert wird. (Dies als ein allgemeiner Hinweis auf die Komplexität und die Kontextabhängigkeit von Wortbedeutungen.) Die wahrnehmungsorientierten, psychologischen Worterklärungen sind hier diejenigen, nach denen wir suchen. Eine zweite Gemeinsamkeit der drei Worterläuterungen der angeführten Nachschlagewerke finden wir in dem Hinweis darauf, dass die Wortbedeutungen des gesuchten Begriffs Wertungen beinhalten bzw. ausdrücken (können). Dies ist ein wichtiger Hinweis für das Verständnis und die Einordnung der gesuchten Begriffsspezifizierung für den Anwendungsbereich in der Architektur und im Städtebau.

Die uns interessierenden Worterläuterungen verweisen auf einen undefinierten, breiten Kanon von Eigenschaften (Attributen), die einem untersuchten Gegenstand zugeschrieben werden können oder / und müssen, um seine „Qualität/en“, seine Beschaffenheit zu erfassen. Der Begriff „Qualität“ fordert die möglichst genaue und umfassende Angabe von beschreibenden, benennenden Antworten darauf, wie ein Ding, ein Raum – ein Haus, ein städtischer Platz beschaffen ist. Das Wort „Qualität“ ist somit nur eine leere Worthülse, die genaue Daten und Angaben verlangt darüber, wie etwas aussieht, erfahren wird, gegliedert ist, woraus es besteht, was es womit bewirkt, welche Beziehungen es nach aussen und nach innen hat usw.. Neben der Vielzahl von erforderlichen bzw. möglichen Aufzählungen an Eigenschaften kommt als weitere Schwierigkeit hinzu, dass alle diese „qualitativen“ und atmosphärischen, beschreibenden Begriffe und Bezeichnungen (vor allem in den Kategorien 4.2.2.0. „Ordnungsfaktoren“ und 4.2.3.0. „Gestalt-Merkmale“) – umgangssprachlich – „normalerweise“ bestimmte Wertungen enthalten: etwas „Dunkles“ wird verbunden mit negativen, gefährdenden Assoziationen, etwas „Monumentales“ mit kalter Machtausübung, etwas „Lebendiges“ ist verbunden mit Positivem versus zu etwas „Leblosem“ usw.; z.B. hier ein ungleichmässig aufgebautes, heterogenes Strassenbild und dagegen ein einheitlich harmonisches Strassenbild.

Als drittes Moment kommt hinzu, was in den drei Worterläuterungen nicht thematisiert wird, dass der momentane, tatsächliche Eindruck eines Gegenstandes – eines Bauobjekts oder Raumes – beim Betrachter und Nutzer durch dessen jeweilige individuelle und situative Wahrnehmungsdisposition und seine Handlungsziele4 mitbestimmt wird; sogar das „Überhaupt-Wahrnehmen“ von etwas ist durch den aktuellen Wahrnehmungsstatus bedingt. Und die früheren und gespeicherten, ähnlichen Erfahrungen des Wahrnehmenden spielen als „Referenzobjekt“ eine Rolle bei den bewussten wie unbewussten Re- /Aktionen in der konkreten Betrachtungssituation. All dies beeinflusst das, was bei einer analytischen Beschreibung den inhaltsleeren Begriff „Qualität/en“ füllt, die tatsächliche Beschaffenheit aufzeigt und damit erst seine Qualität/en nachvollziehbar macht.

Fassadenabwicklung exkurs.PNG

Eine Strasse wie die Glockengießerstrasse (siehe Abb.) mit ihrer recht unterschiedlichen Bebauung und heterogene Fassadenabfolge – d.h. ohne deutlich sichtbare (ordnende) Gestaltungsregeln – von grossen und kleinen Häusern, trauf- und giebelständig gemischt, aus verschiedensten Bauepochen entlang einer Strasse, wird fachlich üblicherweise – auch oft gestalterisch – als negativ bewertet (= ungeordnet, chaotisch, durcheinander, regellos und zufällig...). Erst recht, wenn solch Strassen-Längsbebauung ohne sichtbar-historische Verortung oder gar gänzlich neugebaut wäre. Diese Strasse in Lübecks Altstadt wird jedoch kaum jemand auf diese Weise abqualifizieren (wollen), obwohl eine Gestaltungsanalyse, z.B. der unterschiedlichen Hausvolumina oder der Traufhöhen, grösste Unterschiede aufzeigt. Man sieht an diesem Beispiel, dass ein vielfach ungeordnetes, heterogenes Strassenbild – welches viele weitere unterschiedliche (z.B. mit und ohne Zwerchgiebel, verschieden Materialien) wie auch einheitlicher, angeordnete Gestaltungselemente aufweist (z.B. Lochfassaden, ähnliche Hausbreiten, jedoch auch hierbei mit Abweichungen) – insgesamt als qualitativ positiv bewertet werden kann. (Hier als „vielfältig“ zu kennzeichnen. – Jedoch solch‘ Bewertungen ändern sich auch in der Zeit und über die Zeiten! 1960 sah und bewertete man das – auch in Lübeck – anders und machte Abrissplanungen für solche Altstadtquartiere.) Dies zeigt, dass alle / viele dieser qualitativen Begriffe je nach Ort / Situation / Bauepoche / Region usw. zwar implizit und ggf. dem Wortlaut nach, erkennbar Bewertungen enthalten, sie jedoch auch als Beschreibungsweisen „wertneutral“ benutzt werden5 (können), sofern man diese Bewertungsanteile herausarbeitet, extrahiert und (gedanklich) eliminiert. Solche Eigenschaftsbezeichnungen sind hier in unserem fachlichen Gestaltanalyse-Kontext somit als „neutraleBegriffe und Beschreibungen6 zu verstehen.

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1: Internet: www.duden.de Stand 06.09.2017
2: Klaus, Georg / Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch; Band 2; 8., berichtigte Auflage; Berlin 1972, S. 895ff inkl. Stichwort: Qualität und Quantität [zwar mit realsozialistischer Sichtweise, jedoch umfangreich, gründlich und anschaulich]
3: Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch; Dorsch, F. / Bergius, R. / Ries, H. / u.a. (Hrsg.); 10., neubearbeitete Auflage; Bern / Stuttgart / Wien 1982, S. 545f [siehe dort auch: qualitative Merkmale]
4: Wenn ich im Moment nach dem Bäcker suche, übersehe ich (vielleicht) den besonderen Anblick eines wohlgeformten Schaugiebels.
5: So wie z.B. die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Barock“ eine Abwertung meinte im Sinne von „schief“ bis „merkwürdig“ und heutzutage eine neutrale Stilbezeichnung (geworden) ist.
6: Gleichwohl sollte man bei einer Stadtraum-Analyse immer Bezeichnungen suchen, die vordergründige Wertungen vermeiden. – Jedoch ein als „beengt “ wirkender Raum (wie z.T. in Daniel Libeskind’s Jüdischem Museum in Berlin) erfüllt eben damit die beabsichtigten Zwecke, wenn genau diese bestimmten Raumempfindungen (dort) angeregt werden sollen; oder bei einer Altstadtgasse kann dies auch als „heimelig“ und „reizvoll“ eingeschätzt werden.
7: Siedlung Fuggerei des 16. Jahrhundert in Augsburg / Deutschland und das historische Marine-Wohnquartier Nybodergården des 17. Jahrhunderts in Kopenhagen / Dänemark
8: Architekt und Städtebauer Ernst May (1886 – 1970); wichtiger deutscher Planer von Siedlungen u.a. in Frankfurt / Main, Lübeck [siehe Fotografie in 4.2.1.3.d.], Bremen, Hamburg, Darmstadt; als „Brigade May“ 1930 – ca.1933 in der Sowjetunion u.a. in Magnitogorsk, Leninsk-Kusnezki, Kusnezk und für Moskau tätig.